Foto: Angelique Preau

VIELSTIMMIGES, SPIELERISCHES ZUHÖREN

Lea Moro: OHREN SEHEN

Was nehmen wir wahr, wenn wir genauer hinhören? Wie verschiebt sich unsere Wahrnehmung, wenn wir uns auf die Ohren fokussieren? Die Berliner Radiokünstlerin und Forscherin Kate Donovan (www.mattersoftransmission.net) begibt sich in Lea Moros Stück „Ohren Sehen“ gemeinsam mit den jungen Zuhörer*innen auf eine vielschichtige, akustische Reise in die Umwelt der fabrik Potsdam.

Von Kate Donovan. Übersetzung von Gabi Schaffner. | 12. Juli 2022

An einem ungewöhnlich warmen und sonnigen Märztag warteten wir vor der Fabrik Potsdam auf den Beginn von „OHREN SEHEN“, der Performance von Lea Moro. Wir wussten, dass es um Erkundungen und um Sinnlichkeit gehen würde. Wir wussten auch, dass das Zuhören eine Rolle spielen würde, aber ich fragte mich, was für eines…

Während wir warteten, schritt ich zwischen Sonne und Schatten im Hof auf und ab. Da waren die Geräusche wartender Kinder, Geräusche von jemandem, der telefonierte, Geräusche von weiteren Kindern, die auf dem Spielplatz in der Nähe spielten, von Menschen, die auf den Terrassen saßen und zu Mittag aßen. Es muss Vogelgeräusche gegeben haben, vielleicht auch der Klang von Wasser (wir waren nicht weit vom Ufer entfernt) oder Bootsgeräusche, aber ich muss zugeben, dass ich mich nur an die Töne erinnere, die von Menschen erzeugt wurden. Ich fragte mich, ob wir uns gleich auf eine Reise des Wahrnehmens begeben würden – der Flechten, der frühlingshaft aufbrechenden Knospen, der Materie, die auf der Wasseroberfläche schwappte. Ich schaute auf die Pflastersteine hinunter und bemerkte winzige Blumen, die in der Erde dazwischen wuchsen.

Anna Tsing hat über die Kunst der Wahrnehmung geschrieben; und obwohl sie vorwiegend über die verschiedenen Modi menschlicher und nicht-menschlicher Welterzeugung in Bezug auf den Kapitalismus schreibt, verwenden viele der zeitgenössischen Praktiken des Zuhörens ganz ähnliche Strategien, um der Wahrnehmung als einer Form der Einstimmung, der Fürsorge, des Beachtens einen Vorrang einzuräumen. Die Aufmerksamkeit gegenüber den oftmals vernachlässigten ‚kleinen‘ Dingen vermag uns zu einer Anerkennung sowohl der Relationalität als auch der Differenz führen. Der Titel des Stücks, auf das wir warteten – „OHREN SEHEN“, verweist bereits auf eine bewusste Verschiebung der Dynamik vom Sehen zum Hören; eine Verschiebung, wie sie auch Arthur Russell 1986 in seiner Liedzeile „I’m watching out of my ear“ besang.

Aber das war nicht der einzige Wahrnehmungsschub, der uns im Lauf der Performance bevorstand: das ‚Hören‘ wurde nicht im auditiven Sinne allein gedacht, sondern als eine mit greifbare Form der Rezeption und der Einstimmung – sinnlich und imaginativ.

Als wir den Theaterraum betraten, wurde unseren Sinnen nach und nach klar, dass wir uns tatsächlich im „Herzen der Stadt“ befanden. Ein Kind fragte: „Warum machen die das so langsam, alles?“ Eine großartige Beobachtung, und in der Tat könnte man sagen, dass Verlangsamung der erste Schritt zum Wahrnehmen ist…

Wir wurden in drei Gruppen aufgeteilt, bekamen Kopfhörer und wurden nach draußen geführt, um unsere vielstimmige Reise zu beginnen. Unsere Kopfhörer waren eigentlich Radioempfänger, die sowohl die Stimme (und den Atem) unserer Führerin als auch später den von ihr abgespielten Ton empfingen. Sie erklärte, dass „die Antenne uns verbindet“. Es gab ein ausgeprägtes Gefühl der Kollektivität in dieser Funkblase – wir empfingen alle die gleichen Signale von unserer Führerin. Durch unsichtbare Frequenzen verbunden, erfuhren wir eine gemeinsame Intimität, die vor allem durch den Klang ihrer Stimme bestimmt wurde. Radioübertragungen von kleiner Reichweite werden oft genutzt, um ortsspezifische, kollektive Hörerlebnisse zu schaffen, so bei Klangspaziergängen, Führungen und ähnlichen Aktivitäten. Selten jedoch werden sie als Teil unserer technologischen Infrastruktur erwähnt; vielleicht erscheint der Begriff „Radio“ da zu anachronistisch.

Das Hören über Kopfhörer schuf eine ganz besondere Hörerfahrung. So waren wir von unserer unmittelbaren Klangumgebung abgeschnitten und doch durch die Kollektivität unserer gemeinsamen Klangrezeption miteinander verbunden. Unsere Führerin schlug vor, nur einen Kopfhörer an und den anderen aus zu lassen, damit wir unsere Umgebung gleichzeitig wahrnehmen könnten. Ich glaube nicht, dass irgendjemand in unserer Gruppe diese (vielleicht unbequeme) Option gewählt hat, – auch, weil es einfach mehr Konzentration braucht, um auf die Umgebung und die Erzählebenen zugleich zu achten. Das soll nicht heißen, dass mehrstimmiges Hören nicht funktionieren kann: Unser Radiokunstprojekt Datscha Radio zum Beispiel sendet vorwiegend aus Gärten und ermutigt seine Zuhörer*innen dann, ebenfalls von einem Garten oder einem naturnahen Bereich aus zuzuhören – insbesondere 2017 (Donovan 2018). In den Schichten des Hörens verweben sich die Klänge der unmittelbaren Umgebung mit den Klängen der Übertragung. Dieses gemeinsame Hörerlebnis mit anderen, nah und fern zugleich, lässt ein Gefühl der Kollektivität entstehen und erzeugt parallel dazu eine Art Erdung mit der umgebenden Welt (2017, datscharadio.de). Es lässt sich hier von einer polyphonen Erfahrung sprechen. In Bezug auf das Hören schreibt Anna Tsing: „Als ich zum ersten Mal die Erfahrung der Polyphonie machte, war es eine Offenbarung des Hörens; ich war gezwungen, einzelne, gleichzeitig erklingende Melodien herauszufiltern und auf die Momente von Harmonie und Dissonanz zu achten, die sie zusammen erzeugten.“ (2015, 24).

Ein solches Zuhören erfordert Zeit und Konzentration, und dieses Theaterstück war, vielleicht, weil es sich an ein junges Publikum richtete, zu dynamisch für ein Engagement dieser Art: Eher hatten wir das Gefühl, uns auf einer Reise zu befinden, um den Klängen der Orte und der Geschichten (achtsam) zu lauschen. Es handelte sich dabei um ein körperbetontes, taktiles Zuhören, das dem ähneln mag, was Cecilia Vicuña als „Hören mit den Fingern“ (1983) bezeichnet. Aber Polyphonie ergab sich noch aus anderen Formen, als ein Chor von Stimme/n, als Assemblage von Erzählungen und Storytelling. Wesenheiten sprachen zu uns, aus verschiedenen Zeiten und Räumen. Eine Schlange führte uns unter die Erde, hinunter in die Kanalisation. Und Wasser führte uns zurück zu seinem Ursprung zu Beginn der Erdzeit.

Foto: Kate Donovan
Foto: Kate Donovan

Ähnlich wie in der Kinderpädagogik wurde das Element des Anthropomorphismus als Mittel eingesetzt, um eine Verbindung zu nicht-menschlichen Anderen herzustellen oder Empathie für sie zu entwickeln. Diesen Wesen wurde eine (menschliche) Stimme gegeben. Kinder kennen das gut, – man denke nur an die Bären und Kaninchen in all den Bilderbüchern, die Kleidung tragen, Uhren haben und in Betten mit Kissen und Decken schlafen!

Das soll nicht heißen, dass Kinder nicht verstehen, was vor sich geht, oder dass sie unfähig wären, die Machtdynamik solcher Vermenschlichung zu durchschauen; ich meine damit lediglich, dass Kinder in der Regel eine spielerische Fantasie haben. Zum Spielerischen gehört es, den Unglauben auszusetzen. Unter dem Motto des Spielerischen werden mehr Dinge akzeptabel.

Eine der Schönheiten des Radios besteht darin, dass die Entkopplung des Klangs von der Klangquelle (die Unsichtbarkeit des Ursprungs der Stimme) die Phantasie anregt. Wir konnten der Erzählung der Schlange in der Kanalisation direkt von einem Gullyloch aus folgen; wir konnten uns vorstellen, was wir nicht sehen konnten.
In diesem Sinne kann das Zuhören wie Lesen sein – der visuelle Aspekt bleibt dank der Plastizität und der Fluidität unserer Vorstellungskraft unberührt. Die Radio- und Theatermacherin Pavlica Bajsić Brazzoduro spricht in diesem Zusammenhang von der kollektiven Natur der Imagination: „Wir haben die Freiheit, Assoziationen und Bilder in unserem Kopf zu kreieren, und dadurch werden unsere Zuhörer*innen zu unseren Mitschöpfern. Wenn das Bild fehlt und uns nur der Klang bleibt, erlaubt diese Unterbrechung unserem Gehirn, sich den inneren Mechanismen der Vorstellungskraft zuzuwenden und unsere bewussten und unbewussten Gedanken, Gefühle, Erinnerungen und Projektionen kommen zum Vorschein.“

Während der Performance gab es Momente, in denen wir dazu angeleitet wurden, uns zu erlauben verletzlich zu sein – indem wir die Augen schlossen und gemeinsam an einem Seil entlanggingen; indem wir uns der Textur des Schlamms hingaben; indem wir uns im Auge des Sturms umhertreiben ließen. Um sich derart auf eine Sache einzulassen, ist eine gewisse Verspieltheit nötig, – die bei meinen kindlichen Begleiter*innen reichlich vorhanden war. Maria Lugones schreibt: „Verspieltheit ist teils auch eine Offenheit dafür, ein Narr zu sein. Was wiederum bedeutet, dass man sich nicht um Kompetenzen sorgt oder sich selbst zu wichtig nimmt, dass man Normen nicht als heilig ansieht und dass man Ambivalenz und Doppeldeutigkeit als Quelle von Weisheit und Freude wahrnimmt.“ (1987, 17).

Spielerisches Zuhören könnte uns vielleicht einen Weg aufzeigen, das Selbst zu dezentrieren und die Position des Menschen innerhalb eines weiter gefassten Miteinanders von Wesenheiten neu zu kalibrieren.
Zugleich könnte uns dieses Spielerische am Zuhören lehren, unserer Imagination zu folgen und uns für das zu öffnen, was wir nicht unmittelbar wahrnehmen können.

Zitate

Bajsić Brazzoduro, Pavlica, and Lucija Klarik. „Pavlica Bajsić Brazzoduro: ‘Audio Creates a Whole New Dimension.’” Siehe Stage, 2 May 2022, https://seestage.org/interview/pavlica-bajsic-brazzoduro-audio-creates-a-whole-new-dimension/. Stand 4. Mai 2022.

Donovan, Kate. ‘The Radio Garden. On Datscha Radio 17’. Expanding Radio. Ecological Thinking and Trans-scalar Encounters in Contemporary Radio Art Practice, 2018, S. 52-71.
https://archive.org/details/DONOVANExpandingRadio/

Lugones, María. „Playfulness, „World“-Travelling, and Loving Perception.” Hypatia, Vol. 2, No. 2 (Summer, 1987), S. 3-19.

Russell, Arthur. „Tower Of Meaning / Rabbit’s Ear / Home Away”, World of Echo, Upside Records/Rough Trade Records, 1986.

Tsing, Anna Lowenhaupt. „Arts of Noticing”, The Mushroom at the End of the World. On the Possibility of Life in Capitalist Ruins. Princeton University Press, 2015, S.17-27.

Vicuña, Cecilia. „Entering”, Poems, New York, 1983.

Übersetzung: Gabi Schaffner 2022