WENN SICH MUSIK IN TANZ VERWANDELT

JENNY BEYER: SUITE

Spricht Musik direkt zum Herzen? Oder gelangen Töne übers Ohr in den gesamten Körper, den sie dadurch in Bewegung versetzen? Soviel ist sicher: Die Beziehung zwischen Klängen und menschlicher Körperbewegung ist direkt und ursprünglich. Darauf vertraut auch Jenny Beyer in ihrer Produktion Suite. Zum ersten Mal gestaltet die Hamburger Choreographin für junges Publikum. Ihr Anliegen: Kinder sollen verstehen, wie sich Musik in Tanz verwandeln kann.

Von Dagmar Ellen Fischer | 13. Dezember 2021

Als Ausgangspunkt wählte sie die „Suite für Violoncello solo Nr. 1“ von Johann Sebastian Bach. Die einzelnen Sätze tragen zwar Titel von (historischen) Tänzen, doch getanzt hat dazu im 18. Jahrhundert – als Bach sie komponierte – schon niemand mehr. Dennoch reagiert die Choreographin, die früher selbst Cello spielte, bei ihrer Gestaltung auf die unterschiedlichen Stimmungen von Prélude, Allemande, Courante, Sarabande, Menuett und Gigue. Die unmittelbare Verständigung zwischen der live musizierenden Cellistin Lea Tessmann und den beiden Tanzenden Jenny Beyer und Joel Small gehörte dabei von Anfang an zum Konzept.

Prélude

Die Aufführung am Vormittag auf Kampnagel verfolgen mehrere Schulklassen, platziert in einem weiten Kreis um die Akteur*innen herum. Diese Anordnung ist deutlich geeigneter für eine direkte Kommunikation zwischen Darstellenden und Publikum. Schon beim Einlass locken Stimmen aus kleinen (Lautsprecher)Würfeln, die über dem Bühnenraum von der Decke baumeln: Eingefangene Statements von Kindern, zahlreich und zeitgleich wiedergegeben, so dass sie sich zu einem Stimmenbrei vermischen.

Tatsächlich beginnt die Live-Musik der Aufführung ohne Bach: Am Anfang beklopft die Cellistin ihr Instrument, woraufhin Jenny Beyer das Gleiche mit dem Rücken ihres Kollegen macht. Auch Streich-, Rubbel- und Wischbewegungen auf dem Cello imitiert sie mit entsprechenden Berührungen ihres Partners, bis sich schließlich Cello-Töne und Bewegungen in einem regelmäßigen Rhythmus gemeinsam einpendeln. Auch zum folgenden Rollentausch – Joel ist der Aktive, der Jenny bewegt, schüttelt und einzelne Körperteile von ihr anhebt – erzeugt Lea das passende akustische Pendant. Auf diese Weise entwickelt sich ein Dialog zwischen den nun gleichermaßen aktiven Tanzpartner*innen einerseits und der musikalischen Improvisation andererseits.

Als Lea mit Bachs Prélude einsetzt, gehört Joel der Raum zunächst allein: Er läuft, stoppt plötzlich und spielt den Erschrockenen – die Kinder lachen über den provozierten Schreckmoment. In Jennys Solo dominieren im Folgenden schlängelnde Bewegungen. Erst im nächsten Satz finden beide tanzend zusammen, dicht hintereinander einer als Echo der anderen. Alternativ zum traditionellen Paartanz hebt sie ihn. Für Kinderaugen unvertraute Sequenzen wechseln mit solchen, die vermutlich bekannte Bilder hervorrufen, wie das Prellen von Bällen – ohne Bälle. Sobald eine Bewegung mehrfach wiederholt und somit nachvollziehbar wird, versuchen einige Kinder, sie zu imitieren. Joel lauscht am Cello, Jenny lauscht an Lea.

Courante

Bei jedem Suiten-Satz findet die Cellistin einen neuen Sitzplatz, sodass sich die räumlichen Abstände zwischen den Akteur*innen verändern. Auch die Bewegungsqualitäten wechseln, so sind mitunter aggressives Boxen, unkontrolliertes Schleudern, dann wieder Bewegungen in Zeitlupe zu sehen. Es gibt Phasen, in denen sich Jenny und Joel in schnellem Tempo zu langsamer Musik bewegen oder sich sogar von deren Metrum gänzlich unabhängig machen. Verbeugungen zitieren das Vokabular der im 17. Jahrhundert populären Tänze, dann wiederum konterkarieren Jazzwalks die Anspielungen auf höfische Etikette. Auch Alltagsbewegungen aus unserem Jahrhundert werden eingebaut, so beispielsweise Kopf-Wackeln, Winken, Krabbeln.

Alle drei Akteur*innen tragen Jogginganzüge in einer Farbkombination aus hellgrau und knallrot. In einer Satz-Pause legen die Tanzenden sie ab und zeigen die darunter versteckten Outfits mit Leopardenmuster. Während Jenny auf der äußeren Kreisbahn nah an den Publikumsreihen entlang tanzt, versuchen einige Jungen vorsichtig, Jennys Leoparden-Leggins mit ihren Fingerspitzen zu berühren: Die Einladung zu kommunizieren, funktioniert.

Zum letzten Satz der Suite, der fröhlichen Gigue, setzen sich alle Drei dicht hintereinander auf einen Hocker: vorne Lea mit dem Cello, dahinter Jenny, dann Joel. Leas musizierende Streichbewegungen ahmen die beiden anderen wie Schatten nach, auch setzen sie ihre Hände zusätzlich auf das Griffbrett des Instruments. Schließlich separieren sich die individuellen Drillinge, bewegen sich ein letztes Mal individuell und beenden die Vorstellung gemeinsam mit dem letzten Ton, der finalen Geste, während es im selben Moment dunkel wird.

Menuett

Dem Warm-up bzw. Tune-in am Anfang entspricht ein Cool-down am Ende: In drei Gruppen aufgeteilt, können die Kinder jeweils einem der drei Mitwirkenden Fragen im Anschluss an die Aufführung stellen. Da wird gefragt, warum das Licht wechselte, wie lange es dauerte, sich alles zu merken und warum die Jogging-Anzüge ausgezogen wurden. Jenny wurde gefragt, ob es für sie schwierig war, ihren Tanzpartner hochzuheben – die bewusst umgekehrte Variante wurde offenbar bemerkt.

Eine gemeinsame Aktion, die sich auf die Einleitung bezieht, macht die Vorstellung final schlüssig und rund: Was Lea auf dem Cello spielt, können die Kinder mit ihren Händen auf dem eigenen Körper nachahmen: Die Musik klingt wie tasten, trommeln, prickeln, streichen, klopfen und endet mit einer von Jenny so benannten „Schüttelmusik“, zu der sich alle wild und schüttelnd austoben dürfen.

Eingerahmt von den spielerischen Anteilen am Anfang und Ende der Aufführung, in denen vielfältige, auch perkussive akustische Reize die Fantasie der Anwesenden anregen, wirken die anspruchsvollen Cello-Suiten als musikalischer Kern im Kontrast dazu umso kunstvoller; zugleich relativiert diese freiere Musik die Bach’schen Kompositionen und bewirkt einen leichteren Zugang zu ihnen. Die gegenseitige Aufforderung zum Tanz, die Jenny und Joel zelebrieren, setzt sich folgerichtig fort und bezieht das Publikum im Laufe der Aufführung mit ein.

Erarbeitet wurde die Choreographie über längere Phasen der Improvisation, so dass letztlich jede*r der beiden Tanzenden eigene Motive und Bewegungsfolgen entwickeln konnte, die zu ihrem bzw. seinem Körper passen und entsprechend überzeugend präsentiert werden können. Die unterschiedliche Physis der Drei, aber auch die physikalische Anwesenheit des Cellos, bieten verschiedene Identifikationsangebote für Kinder. Ergänzend transportiert die Choreographie nonverbal Botschaften wie „Tanzen ist unabhängig vom Geschlecht“ und hinterfragt per Körpersprache fast beiläufig überholte geschlechtstypische Rollen im Tanz. Zusätzliche Sound-Elemente des Künstlers Jetzmann, mit dem Jenny seit Jahren zusammen arbeitet, öffnen Kinder-Ohren für Brüche: „Ich mag es, wenn nicht nur Bach zu hören ist“, sagt die Choreographin. Ihr war es ein Anliegen, Kindern zu vermitteln, dass es kein falsch und richtig gibt, wenn Bewegung zu Musik erfunden wird. Dazu dienen auch jene Passagen der „Suite“, in denen Stillstand zu bewegter Musik zu sehen ist und komplexe Bewegungen zu musikalischen Pausen passieren dürfen. Musik inspiriert, aber zwingt keine Bewegung auf.

Gigue

Warum aber bringt Musik Menschen in Bewegung? Das mag zum einen daran liegen, dass im Phänomen Schall eine Bewegung schon angelegt ist, denn alles, was wir akustisch wahrnehmen, ist nichts anderes als mechanische Schwingung. Seziert man Musik in die Bestandteile Rhythmus und Melodie, so finden sich im Bereich Rhythmus Schnittmengen mit dem menschlichen Körper: das Auf und Ab der Atembewegung und der Pulsschlag des Herzens. Außerdem evoziert die dualistische Anlage des Körperbaus rhythmisch geordnete Bewegungen wie gehen, laufen, hüpfen und springen.

Ein Indiz für diese Tatsache ist schon bei Kleinkindern zu beobachten: Die meisten auch sehr jungen Kinder reagieren, sobald sie Musik hören, mit Körperbewegungen, die sich deutlich von Alltagsbewegungen unterscheiden und die man im weitesten Sinn Tanz nennen kann. Auch aus den Kindertagen der Menschwerdung ist bekannt, dass in archaischen Ritualen sowohl Tanz als auch Töne in gezielter Abstimmung aufeinander eine bedeutende Rolle spielten. Und vor über 2000 Jahren gab es in der griechischen Antike für eine aus Tanz, Musik und Dichtung bestehenden Bühnenkunstform nur ein gemeinsames Wort: musikē.

Musizieren ist immer auch Bewegung. Jenseits der Schwingung der erzeugten Töne bewegen sich die Musizierenden selbst und mit ihnen (meist) auch das Instrument.
Jenny Beyers Suite vertraut diesen vielfältigen Bezügen auf unterschiedlichen Ebenen, und sie traut dem jungen Publikum zu, selbst weitere Anknüpfungspunkte zu entdecken. Im Probenraum des kreativen Teams hingen zu Beginn der Arbeitsphase jede Menge inspirierende und motivierende Fragen. Eine lautete: „How to get into Bach?“ Besser als mit Suite kann man sie kaum beantworten.