Foto aus dem Stück PayPer Play von Andrea Costanzo Martini, Foto: Yair Meyuhas

WELT AUS KARTON

ANDREA COSTANZO MARTINI: PAYPER PLAY

Inmitten der Pandemie entdeckt der Choreograph Andrea Costanzo Martini mit seinem Team, dass ein Tanzstück manchmal den äußeren Umständen in denen es entsteht folgen muss, um aus Chaos Kreativität zu schöpfen. So wird der Mythos der Schöpfung zu einem durch und durch persönlichen Unterfangen, die Konfrontation mit der eigenen Vergänglichkeit zu einem Entdecken von Bewegung und neuem Leben.

Von Andrea Costanzo Martini und Yael Biegon-Citron | 07. Mai 2021

Vimeo

Mit dem Laden des Videos akzeptieren Sie die Datenschutzerklärung von Vimeo.
Mehr erfahren

Video laden

PayPer Play ist die erste Arbeit, die ich dezidiert für ein junges Publikum geschaffen habe.

Das Konzept und die ersten Ideen für das Stück wurden vor mehr als zwei Jahren entwickelt, aber natürlich hätte uns damals nichts auf das vorbereiten können, was aufgrund der Covid19-Pandemie weltweit passieren würde.

In jedem Schaffensprozess spielt das Zusammentreffen von Plänen und Realität eine große Rolle für das Endergebnis, aber in diesem Fall bestimmte es nicht nur die Art und Weise, wie wir arbeiten würden, sondern weitgehend auch den Inhalt des Stücks selbst.

Ursprünglich wollte ich mit dieser Arbeit über Kreativität sprechen. Die Möglichkeit, ausgehend von einer Zeichnung auf einem einfachen DIN-A4-Blatt eine ganze Welt aufzubauen – eine Handlung, die jedes Kind in seinem Alltag erlebt. Ein Stück darüber, was passiert, wenn man seiner Fantasie freien Lauf lässt. Was wäre, wenn sich die Fantasie plötzlich in die Realität verwandeln könnte?

 

Pläne wurden gemacht

Auf praktischer Ebene wollten wir uns zunächst auf die Bewegung und die choreografischen Aspekte konzentrieren, während wir in Israel arbeiteten, und dann das Bühnenbild während der einmonatigen Residenz bei Fokus Tanz in München mit Hilfe eines lokalen Teams entwickeln. Als wir mit der Arbeit begannen, kam es jedoch immer häufiger zu Schließungen, die unseren Prozess stoppten und uns zu dem Schluss brachten, dass unsere Pläne selbst nichts als eine Fantasie waren. Es wurde klar, dass wir das Set physisch in Israel aufbauen und die Premiere auf bessere Zeiten würden verschieben müssen.

Das stellte eine große Herausforderung für die Arbeit dar, bot uns aber auch die Möglichkeit, das Bühnenbild schon früh in die Choreographie zu integrieren und damit die Entwicklung des Stücks selbst zu bestimmen. Da wir ansonsten in unseren Häusern eingesperrt waren, wurde das Tanzstudio umso mehr zum einzigen Ort der geistigen und körperlichen Befreiung, und die Geschichte und Dramaturgie des Stücks folgte bald einem ähnlichen Weg. Wir erkannten, dass die Hauptfigur des Stücks genau das durchmachen könnte, was auch wir durchmachten: Einsamkeit, Langeweile, Frustration, Angst und das Bedürfnis nach Befreiung.

 

Es entstand eine Geschichte

Ein Mann, der in einer kleinen Welt eingesperrt ist, in der der einzige Kontakt mit der Außenwelt ein Fernseher ist, der ihm vorschlägt, Objekte zu kaufen, die die durch die Einsamkeit verursachte Leere füllen sollen.  Etwas, das wir alle am eigenen Leib erfahren haben.

Das „Haus“ des Helden wurde zu seiner neuen Realität, der Matrix. Eine leere Leinwand, die geformt und mit den Objekten seiner Begierde gefüllt werden kann … bequem an seine Haustür geliefert.

Wir erkannten, dass wir den Schöpfungsmythos in seiner ganzen Herrlichkeit erforschten: Der Held (alias Gott) schafft (alias ordnet) Dinge, bis er eine Kreatur nach seinem eigenen Bild fabriziert. Aber auch wie im Mythos ist die Kreatur nicht das, was der Gott sich vorgestellt hatte. Die Kreatur hat einen eigenen Willen, ein Verlangen, eine Persönlichkeit, sowie eigene Schöpfungskraft. So wie wir den Kontrollverlust über unseren eigenen kreativen Prozess (aufgrund der Pandemie und der ständig wechselnden Arbeitsbedingungen) akzeptieren mussten, so musste sich die Hauptfigur des Stücks mit dem Verlust der Kontrolle über seine eigene Welt und der Existenz des Todes selbst auseinandersetzen.

Als Menschen wünschen wir uns, dass wir uns nicht mit diesen Fragen auseinandersetzen müssten, aber die Realität zeigt uns immer wieder deutlich, dass sie unvermeidbar sind. Sie sind die eigentliche Essenz unseres Seins. Schwierigkeiten machen uns Angst, aber sie formen uns auch, und in diesem Fall formten sie die Show selbst.

 

Welt aus Karton

Die Tatsache, dass wir das Bühnenbild während der Arbeit erstellen mussten (einer der Designer ist auch Darsteller in der Show), ermöglichte uns einen tiefen Einblick in die Art und Weise, wie die Objekte in die Bewegungen und Aktionen integriert werden konnten. Ganze Szenen entstanden, nachdem wir das Verhalten von Pappe, ihr Gewicht und ihr Aussehen wahrgenommen hatten. Der monochromatische Raum verstärkte das Gefühl der Einsamkeit und das Bedürfnis nach Anderssein, nach Alterität, nach Variation… Dinge, die wir uns nicht hatten vorstellen können, bevor wir sie vor unseren Augen sahen, wurden offensichtlich.
Technisch gesehen ist es extrem schwierig, mit Pappe zu arbeiten, da sie sehr empfindlich ist, so dass jede Szene andere Herausforderungen und Lösungen barg, die sich dann auf die Art und Weise auswirkten, wie das Set selbst durch die Bewegung und Choreographie gehandhabt werden musste. Tanz und Objekte wurden ineinander integriert, gaben sich gegenseitig Leben und bestimmten die Geschichte in einem dynamischen Hin und Her von Fragen und Antworten.

Kreativität und Kontrolle sind zwei Ideen, die sich gleichermaßen gegenseitig unterstützen oder widersprechen können; zu viel Kontrolle mindert die Kreativität, und Kreativität ohne das Gefühl der Kontrolle kann zu einem Gefühl des Chaos führen. Dieses Ausbalancieren war ein großer Teil unseres kreativen Prozesses sowie Thema im Stück selbst – ein Protagonist, für den Kontrolle eine große Rolle spielt, sieht sich plötzlich mit der Auflösung seines gut kuratierten Raums und Lebens konfrontiert, als Folge davon, dass er sich einem Agenten des Chaos öffnet. Sie inspirieren sich gegenseitig, fordern sich aber auch gegenseitig heraus, bis zu dem Punkt, an dem die letzte, dritte Figur eingeführt wird – und das Leben wird nie mehr dasselbe sein.
Innerhalb dieser neu gefundenen Dynamik werden sie Kontrolle, Freiheit und Freude hinterfragen, während sie lernen, wie sie neue Menschen in ihr Leben lassen können.

 

Der Umgang mit dem Tod

Bei dieser Recherche tauchte allerdings noch ein weiteres großes Thema auf. So sehr wir auch versuchten, diesen kreativen Prozess zu verwirklichen und diese Pappstücke in ihrer Form zu halten, so sehr drängte uns die Realität woanders hin. Dinge können sich jederzeit ändern, ohne Vorwarnung… Dinge können enden.
Die andere Seite der Schöpfung ist der Tod, per Definition ein unbekanntes Terrain.

Was ist der Tod?

Können wir über den Tod sprechen?

Können wir in einem Kinderstück darüber sprechen?

Gerade in einer Zeit, in der viele von uns radikal damit konfrontiert sind, beschloss ich, das Thema auf den Tisch zu legen und zu versuchen, es ohne Angst zu erforschen. Anstatt es zu ignorieren, schien es mir klüger, innezuhalten und es zu betrachten.
Wenn der Tod irgendwie als Mangel an Bewegung gesehen werden kann, denke ich, dass es eine faszinierende Herausforderung ist, ihn durch Tanz zu erforschen.
Es ging darum, sich dem Tod aus einer leichten und zarten Richtung zu nähern, Humor und Traurigkeit zu mischen.
Das Bild von Frankenstein kam in vielen Gesprächen auf. Es ist das Ergebnis eines verzweifelten Bedürfnisses nach Leben, das so stark ist, dass es bereit ist, über die Gesetze der Natur hinauszugehen.

Manchmal fühlte sich das Schaffen dieses Stücks an wie der Versuch, etwas zum Leben zu erwecken, das sich dagegen sträubt… und es gelingt!
Die Vergänglichkeit ist ein Schicksal, das alle und alles verbindet. Die Pappe reißt, Länder schließen ihre Grenzen, aus Bewegung wird Stillstand.
Doch auch wenn die Dinge unbeweglich aussehen und sich anfühlen, ist der Wandel immer im Anmarsch, zusammen mit Neuanfängen und oft auch mit Freude.