Raum und Sound

LUCIA GLASS: DIE CHOREOGRAPHIE DER DINGE UND GERÄUSCHE (Teil 1)

 

Mit Schüler*innen im Alter zwischen 11 und 19 entwickelt die Hamburger Choreographin Lucia Glass ein Pop-up-Stück im Rahmen von explore dance – Tanzpakt Stadt-Land-Bund. Eine Aneignung von Raum unter radikalem Zeitdruck. Und unter verschärften Arbeitsbedingungen. Ein Probenbesuch.

Von Falk Schreiber | 29. April 2019

 

Eine Turnhalle. Durch die geöffnete Tür zum Materialraum fällt ein kleiner Kubus. Plong. Und noch einer. Plongplong. Und immer mehr Kuben, und dann eine Performerin, und noch eine, und noch einer, Plongplongplong, und plötzlich ist die Turnhalle keine Turnhalle mehr, sondern eine Bühne, und das Arrangieren der Kuben ist kein Rumräumen, sondern eine Szene. „Da ist der Raum“, beschreibt Lucia Glass ihren Eindruck von der Halle, „der ist nackt, und wir schieben fünf Kisten rein, haben vielleicht ein bisschen Sound, und plötzlich ist was anderes los. Plötzlich sagt das Ding: Kunst!“

 

ABSTRAKT UND KONKRET

 

Die Choreographin Glass probt das Pop-up-Stück Die Choreographie der Dinge und Geräuschean der Stadtteilschule im Hamburger Elbvorort Blankenese; ein kurzes Stück, in dem eine Gruppe Jugendlicher aus den Jahrgängen 6 bis 13 gemeinsam mit den Tänzer Jonas Woltemate und dem Musiker Clemens Endreß die Verhältnisse zwischen Raum und Körper, zwischen Objekt und Sound erforschen. Die Performer*innen erkunden spielerisch, was sich mit den Kuben, kleinen, reduzierten Objekten anstellen lässt, sie bilden Gruppen, lösen sich auf, nutzen den Raum. Und Glass’ Blick ordnet diese Erkundungen, bis sie sich zu einem echten Stück fügen – bei der Premiere am 24. Mai (und bei den Pre-Showings am 2. und 3. Mai) soll eine etwas über 30-minütige Choreographie stehen, die zwar abstrakt bleibt, aber ganz konkret durch die Kuben bestimmt wird. „Von Beginn an mit einem Objekt zu arbeiten, bringt einen direkt in eine greifbare Auseinandersetzung“, erläutert Glass den Ausgangspunkt ihrer choreographischen Arbeit. Und die Verwendung dieses Objekts wird dann erweitert, beispielsweise durch Endreß’ Sounds. „Die Kuben werden teilweise mit Geräuschen belegt. Das Objekt erhält Bedeutungen, die es an sich nicht hat. So entsteht ein Kontext, ein Raum oder ein Geräusch, das der Kubus alleine gar nicht herstellt.“

 

VIER WOCHEN PROBENZEIT

 

Glass choreographiert, die ersten Ideen aber kommen von den Schüler*innen. Seit Januar arbeitet die 1976 in München geborene Künstlerin mit den Jugendlichen, dann gibt es eine Woche Recherche mit Woltemate und Endreß, es folgen drei intensive Probenwochenenden, in denen aus Vorarbeiten und Recherche das Stück destilliert wird. Außerdem gibt sie jede Woche kurze Körperübungen, 20 bis 25 Minuten in der Unterrichtspause. An den Intensivwochenenden performt Woltemate gemeinsam mit den Jugendlichen, und Glass begutachtet das Ergebnis kritisch, verwirft, arrangiert um, denkt weiter. Unter großem Zeitdruck: Sie arbeitet hier nicht mit Profitänzer*innen, die ihre gesamte Konzentration aufs Stück richten können, sondern mit Schüler*innen, die noch ganz andere Prioritäten haben, die sich zum Beispiel gerade aufs Abitur vorbereiten. Und die hier dennoch für kurze Zeit den Fokus auf die gemeinsame künstlerische Arbeit legen. „Wir haben insgesamt vier Wochen, und in relativ kurzer Zeit entsteht unsere Produktion“, beschreibt Glass dieses hochkonzentrierte Arbeiten. „Künstlerisch heißt das: Ich muss sehr schnell entscheiden, was funktioniert und was nicht, gleichzeitig kommen Ideen, und ich probiere sie aus.“ Aber auch die Schüler*innen sind gefordert, in kürzester Zeit funktionierende Bilder zu erfinden. Für Glass eine Situation, die anstrengt, die aber auch ihren Reiz hat: „Das ist toll, weil einen das auch befreit.“

 

UNTERSCHIEDLICHE ERFAHRUNGEN

 

So divers wie die Altersstruktur ist auch der Zugang zum zeitgenössischen Tanz unter den Jugendlichen. Ann-Sophia, mit elf Jahren die Jüngste unter den Teilnehmer*innen, macht seit ihrer Kindheit klassisches Ballett, weiß aber selbst, dass das, was Glass mit ihnen entwickelt, ein ganz anderes Thema ist. Die 14-jährige Jule erzählt, dass sie in der fünften Klasse mal einen HipHop-Kurs mitgemacht habe, mit zeitgenössischem Tanz aber bisher nicht in Berührung kam. Und Jasper (19) hat überhaupt keine Tanzerfahrung auf der Bühne: „Also, ich tanze viel in meiner Freizeit, aber …“ Und dennoch, aus all diesen unterschiedlichen Perspektiven entsteht ein homogenes Stück.

Ein Stück, das seinen Reiz unter anderem aus der Tatsache zieht, dass sich die Beteiligten ständig einbringen können. „Das Coole an diesem Projekt ist, dass von Lucia und Jonas Denkanstöße kommen, als grober Fahrplan, in welche Richtung das gehen soll“, erzählt Jasper. „Aber jeder einzelne kann jederzeit sagen, was er ändern würde, welche Idee er gut findet, was man mal ausprobieren sollte.“ Eine Zusammenarbeit, die auch Glass so unterschreiben würde: „Die Schüler*innen sagen sofort, wenn was nicht funktioniert. Du kannst als Choreographin deine Visionen nicht gleichermaßen einfordern wie in einem professionellen Kontext. Da kommt dann sofort ein Einwand. ,Warum machen wir das?’, ,Ich fühle mich damit nicht wohl‘, ,Mir ist langweilig‘.“ Was anstrengend ist. Aber auch befriedigend – weil die Schüler*innen sich in dieser Position des Hinterfragens künstlerisch entwickeln.

 

HETEROGENE CHARAKTERE

 

Die verschiedenen Zugänge, die verschiedenen Erfahrungswerte ergeben nach und nach ein Stück, dessen Qualität in der Heterogenität der Teilnehmer*innen liegt. Schon in der Probe deutet sich an, wie stark die einzelnen Charaktere die fertige Choreographie prägen werden, und wie sich diese Vielschichtigkeit am Ende dennoch zu einer Einheit entwickelt, sanft angeleitet durch Glass’ choreographischen Blick, sanft in eine Richtung geführt durch Woltemates Performance.

Die Schüler*innen bilden eine Einheit, ein Knäuel aus Körpern. Es folgt eine zaghafte Bewegung mit dem Arm, eine erste Schülerin löst sich aus dem Knäuel, eine zweite, ein Kubus wird über den Boden geschoben, Plongplongplong. Und schon hat sich eine neue Szene entwickelt.

„Plötzlich sagt das Ding: Kunst.“

WENN DIE SOUNDS VERLÖSCHEN, DANN KLINGT DIE HALLE

LUCIA GLASS: DIE CHOREOGRAPHIE DER DINGE UND GERÄUSCHE (TEIL 2)

 

Lucia Glass’ Pop-up-Stück im Rahmen von explore dance – Tanzpakt Stadt-Land-Bund führt Schüler*innen im Alter zwischen 11 und 19 über die Grenzen des Laientanzes hinaus. Die große Überraschung des Stücks sind aber: schlichte Holzkästchen.

Von Falk Schreiber

 

Die Dinge leben. Mittelgroße Sperrholzkuben bewegen sich durch den Raum, und an ihnen hängen Performer*innen, vollziehen Bewegungen nach, bilden Gemeinschaften und lösen sich wieder voneinander. Nicht die Performer*innen bewegen sich, sie werden bewegt: Die Motivation der Bewegungen sind diese rätselhaften Kuben.
Stimmt natürlich nicht. Natürlich hat Lucia Glass für ihr Pop-up-Stück Die Choreographie der Dinge und Geräusche keine Holzkästchen zum Leben erweckt, natürlich hat die Hamburger Künstlerin die Bewegungen von Menschen choreographiert, und diese Menschen heben, schleppen, schieben, zerren die Kästchen durch den Raum. Bloß machen die Szenen dann eben den Eindruck, dass zu Beginn tatsächlich eine Performerin ihr Kästchen anhebt, durch die Luft schiebt – und plötzlich scheint das Objekt eine eigene Kraft zu entwickeln, und der Arm schiebt nicht mehr den Kubus, der Kubus bewegt sich aus sich selbst heraus, er zieht den Arm mit, und der Arm zieht den Körper.

 

IN DER SCHULTURNHALLE

 

Die Choreographie der Dinge und Geräusche ist als Pop-up-Stück an der Stadtteilschule in Hamburg-Blankenese entstanden, das heißt: Aufführungsort ist eine schmucklose Turnhalle (weswegen das Stück bei Interesse auch problemlos an anderen Schulen aufgeführt werden kann), es tanzen Schüler*innen der Jahrgänge 6 bis 13, gemeinsam mit dem Profitänzer Jonas Woltemate und dem Musiker Clemens Endreß. Der einen suggestiven Soundteppich über die Performance legt: elektronisches Knistern, analoges Schleifen, ein tiefes Brummen differenziert sich als zaghafter Beat aus. Und wenn die Sounds verlöschen, dann klingt die Halle: Quietschen auf Kunststoffboden. Fußtrappeln. Schwerer Atem. Halle, Performance, Musik, alles eine Bewegung.

 

AM MAIBAUM

 

Konkrete Bilder verweigert Glass weitgehend. Mal werden Türme aus den Kuben gebaut, mal werden diese Türme umkreist, in einer kurzen Passage sogar traditionell umtanzt, dann hat man das Bild von einer Dorfgemeinschaft vor Augen, die sich um einen Maibaum versammelt. Aber so plötzlich wie es gekommen ist, löst sich das Bild auch wieder auf, zerfällt die Bühnenarchitektur (wofür sich übereinander gestapelte Holzkuben optimal eignen), zerfällt der Zusammenhalt der Figuren. Dafür entstehen geometrische Formen, streng abgezirkelte Bewegungsmuster, eine Tänzerin zerknüllt einen Bogen Papier, eine verzieht sich in die hinterste Ecke des Raumes, wird eingekreist, wird wieder zurückgeholt ins Kollektiv, das sich nur Augenblicke später wieder auflöst. Tennisbälle fallen auf den Boden, ein zurückhaltender Rhythmus entsteht und verlöscht wieder, Körper stehen regungslos.

 

IM UNKLAREN

 

Zumindest bei der Endprobe, drei Tage vor der Premiere am 24. Mai ist noch nicht alles an diesem Stück bis ins Letzte durchgetaktet: Manche Bewegungsfolgen würden noch ein bisschen mehr Genauigkeit vertragen. Ob es eine gute Entscheidung ist, kurz vor Schluss die abstrakte Ebene zu verlassen und ein konkretes Bild entstehen zu lassen, ist noch nicht ganz klar. Und gleichzeitig muss die Choreographin darauf achten, dass bei der Premiere nicht alles zu genau gearbeitet ist, dass offene Stellen bleiben, ein Geheimnis im Tanz nicht aufgelöst wird – die Qualität des Projekts liegt auch im Unklaren, in einer Bewegung, deren Ursprung sich nicht so einfach decodieren lässt, einer Bewegung, die man als Tanz lesen kann oder als physikalisches Gesetz, dessen Hintergrund man ahnt aber nicht bis ins Letzte versteht. Allein: Dass Die Choreographie der Dinge und Geräusche eine starke künstlerische Setzung ist, steht außer Frage. Und jenseits dieser künstlerischen Setzung beweist die Produktion noch etwas: eine tänzerische Präsenz, die weit über Laienniveau hinausweist. Während der mehrmonatigen Probenphase hat es Glass geschafft, die Schüler*innen, die von ganz unterschiedlichen tänzerischen Niveaus kommen und ganz unterschiedliche Altersstufen abdecken, zu einem Ensemble zusammenzuführen, einem Ensemble, das sich in den Dienst des Tanzes stellt und das gleichzeitig die individuellen Tänzer*innenpersönlichkeiten achtet.  Die Choreographie der Dinge und Geräusche ist so ein Stück, das jenseits der Performancearbeit mit jugendlichen Laien steht: Kunst nämlich. Kunst, bei der sich gar nicht mehr die Frage stellt, wer hier ausgebildete Künstler*in ist und wer Schüler*in mit Faible für Tanz.