Philosophieren mit Kindern und Körpern, mit Metermaß und Monstern
Nora Elberfeld: 1004 Zentimeter Mut
Wie entsteht eigentlich ein mobiles explore dance Pop Up? Und was heißt es, wenn wir sagen, dass Kinder und Jugendliche in alle Phasen der künstlerischen Arbeitsprozesse aktiv einbezogen werden? Die Choreographin Nora Elberfeld nimmt uns mit auf den Entstehungsprozess ihres Pop Up Stücks „1004 Zentimeter Mut“.
Über den Prozess von „1004 Zentimeter Mut“. Von Nora Elberfeld | 28. Januar 2024
Mutprobe 15: „Großes wagen.“
Wie lange ist die Freiheit?
Wie groß muss eine Held*in sein?
Wie viel Strecke ist zwischen deinem Nichts und meinem Nichts?
1004 Zentimeter Mut ist ein Stück, das in engem Austausch mit Kindern entstanden ist. Gemeinsam mit dem künstlerischen Kernteam Guy Marsan – Performance, und Judith Jaeger – Dramaturgie, sprachen, philosophierten und tanzten wir in regelmäßigen Abständen mit zwei Gruppen von Kindern – der zweiten Klasse einer Grundschule und einer Kita Gruppe von Vorschulkindern. Ihre Worte und Assoziationen waren der Ausgangspunkt für unsere Texte und verschiedene Elemente des Stückes, ihre Ängste und Wünsche vermengten sich mit unseren, wir bauten Monster, retteten uns vor kläffenden Hunden und dem Horrorclown, vor Schlingpflanzen in Badeseen und einer riesigen Wunde, aus der ganz viel Blut tropft.
Den Auftakt bildete ein erster Besuch und Workshop bei einer zweiten Klasse. Meine Kollegin Yasmin Calvert leitete dort eine Session „Philosophieren mit Kindern“ zum Thema Mut, bei der ich erst mal nur lauschen durfte.
Wieviel wiegt Mut? Nichts… ist eher so fliegend. Ist wie in die Luft springen.
Mut ist wenn man sich traut, von einem Haus zu springen. Oder sich traut in den Urwald zu gehen. Ist Kostenlos. Ich würde sagen Mut kostet schon was.
Beim Philosophieren mit Kindern (nach Kristina Calvert) entfaltet sich ein kreativer Prozess, bei dem die Kinder gemeinsam auf die Suche nach Bedeutungen gehen und ihrem Denken Ausdruck verleihen. Über Anschauungsmaterial oder Objekte (ein Kuscheltier, Bilderbuch oder Wort-Bild-Karten von abstrakt bis figurativ) fahnden sie nach eindeutigen wie auch mehrdeutigen Formulierungen und kommen ins Fühlen und Assoziieren. In der Auseinandersetzung mit Wort-Bild-Karten und das gemeinsame Sortieren geht es z.B. darum Begriffe und Motive ins Verhältnis zu setzen und zu begründen, warum man beispielsweise eine Karte neben eine andere legt. Manchmal sind diese Begründungen logisch-argumentativ, manchmal ergeben sie sich einfach über die Formen und Farben der Karten, immer wieder entstehen dadurch neue Zusammenhänge und Denkräume.
Die Worte, Assoziationen, Ideen und Bewegungen der Kinder brachten wir in den Probenraum, wo sie schließlich mit den Materialien, die uns umgaben und unseren körperlichen Bewegungen Ping Pong spielten. Wir verhandelten Größenverhältnisse und Dimensionen, probten wie groß wir oder alles um uns herum gestapelt werden können, und landeten schließlich auf Stelzen und unter sehr hohen großen und winzig kleinen Hüten (Bühne: Doris Margarete Schmidt). Ein Metermaß entfaltete sich zu einer Riesenschlange und wollte unbedingt eine Antwort auf die Frage: „Kann man Mut messen?“ Wir begegneten wilden Tieren und sahen der eigenen Angst ins Auge.
Ich würde 1300 für Mut nehmen.
Im weiteren Verlauf erweiterten wir die gemeinsamen Treffen und das Philosophieren um Workshops, in denen wir die Kinder in die körperliche Recherche einbezogen, gemeinsam Mut und Angst Scores entwickelten und Sequenzen aus dem Probenmaterial zeigten. Wir erforschten inwieweit wir „in gefährlichen Situation ruhig bleiben“ konnten und die Kinder kürten den Moment, wenn Guy Marsan mit Stelzen über sie läuft als einen Lieblingsmoment.
Dass Mut und Angst wie zwei Seiten einer Medaille – die es übrigens auch ins Stück schaffte – sind, wurde uns nicht nur von den Kindern gespiegelt. Eine Woche beschäftigten wir uns intensiv mit unseren eigenen Ängsten als Kind und Erwachsene und glichen sie mit den Ängsten der Kinder ab. In dieser Zeit begegneten uns im Alltag überall Augen, die zum Symbol und Inbegriff der Angst wurden
Und so war es die Angst, die uns den Weg zum Mut ebnete: Mutprobe 3: „Seine Ängste aussprechen.“
In 24 Mutproben blickten wir ins Angesicht des Löwen (Mutprobe 1), übten uns im Anders Sein (Mutprobe 12), teilten den Raum mit einem Monster (Mutprobe 13), sprangen ins Ungewisse (Mutprobe 18), hielten die Leere und die Schwere aus (Mutprobe 21) und schauten einander (und vor allem unserem jungen Publikum) in die Augen (Mutprobe 24).
Wenn wir gegen Ende des Stücks unser selbst gebautes Monster erklimmen und ihm in die Augen blicken, begegnen wir sinnbildlich unserer Angst auf Augenhöhe. Vielleicht verschwindet die Angst nie ganz, und spielt mal Vordergrund- und mal Hintergrundmusik, so wie der Sound von Gregory Büttner. Vielleicht kommt sie auch in ganz unterschiedlichen Ausprägungen wieder, egal ob wir groß oder klein sind. „1004 Zentimeter Mut“ möchte keine Anleitung zum Mutigsein oder die Eliminierung der Angst vorschlagen, sondern sichtbar machen wie Ängste Teil des Lebens sind, sein dürfen und zugleich einen Umgang erfordern, um das Erschreckende im Rahmen zu halten.
Mut ist auch, wenn man sich traut und es einfach macht. Manchmal bedeutet dieser kleine Schritt aber jede Menge Überwindung. Wir durften erfahren, wie dieser Aspekt der Überwindung, sei es auf einer körperlichen oder gedanklichen oder performativen Ebene, eine unglaubliche Freude und Leichtigkeit freisetzen und vor allem anstecken kann.
Bei der letzten Vorstellung an einer Grundschule war eine solche Begeisterung und ein Bewegungsdrang im Raum, dass wir das Nachgespräch kurzerhand zu einem gemeinsamen Nachtanzen veränderten. Die Kinder fingen von alleine das Stück körperlich zu rekapitulieren, kletterten an der Wand, ahmten die Tierbewegungen nach und zeigten uns ihre eigenen akrobatischen Moves. Diese Erfahrung hat mir gezeigt, dass der Prozess der Vermittlung nicht mit dem Stückprozess abgeschlossen ist, sondern mit jeder Vorstellung weiter gedacht und entwickelt werden kann, wie Vermittlung und künstlerischer Prozess ineinander greifen. Vor allem hat sie mir Lust gemacht, bei jeder Vorstellung anhand kleiner Dreh- und Angelpunkte Neues zu probieren und die Reaktionen der Kinder immer weiter einfließen zu lassen.
An diesem Nachmittag schlugen wir den Rekord im Autogramme und Augen auf Unterarme malen…
Ist im Bauch, kitzelt mich und will raus. Ist grün oder orange oder gold und glitzert – wie gleißend helles Licht, wie Sonnenlicht. Kannst du im ganzen Körper sammeln – ist auch im Kopf – in dir, in mir. Ist fern und nah – ist hier und da. Ist unsichtbar.