Foto einer baumgesäumten Brandenburger Allee

Kultur im ländlichen Raum

Den Jugendlichen Türen öffnen – wie explore dance gegen das Schweigen antanzt

Mit körperlicher Präzision und emotionaler Wucht erzählt das Pop Up WUW – Wind und Wand  des Tänzerduos ZINADA von Druck und Ausgrenzung in der Jugend, aber auch von Selbstermächtigung. Mit der Performance bringt das Netzwerk explore dance zeitgenössischen Tanz an Orte, an denen Kunst selten zu Gast ist – und trifft dort auf Jugendliche, für die das Schweigen manchmal lauter ist als alles andere.

Von David Schmidt | 27. Juni 2025

Eine graue Turnhalle, harte Elektrobeats, ein paar Dutzend Schüler*innen auf Bänken – und mitten im Raum eine Wand. Keine echte, sondern eine Turnmatte, beschmiert mit Schriftzügen und bunten Graffitimotiven. Sie steht symbolisch für Herausforderungen, die Jugendliche erfahren.

Tanzend, ganz ohne Worte, erzählen Jin Lee und Jihun Choi in der Coming-of-Age-Performance WUW – Wind und Wand von den Kämpfen junger Menschen mit sich selbst, den Erwartungen ihrer Eltern, Schamgefühlen, Depressionen und Leistungsdruck.

Die von Jin Lees Tanzpartner Jihun Choi kontrollierte Wand ist eine mächtige Hürde, die die Künstlerin zu überwinden versucht, immer und immer wieder – vergeblich. Nach unzähligen Versuchen sackt sie sichtlich resigniert auf dem Boden zusammen. Doch dann nimmt Lee den Tanz wieder auf, dieses Mal in einer neuen Dynamik, spielerisch, leichter. Was gerade noch unabänderlich schien, wird so allmählich transformiert – bis Lee endlich groß und selbstsicher auf der Wand stehen kann. Konflikte sind lösbar, Hürden lassen sich überwinden: WUW endet auf einer Note, die dem jungen Publikum am Gymnasium Strausberg II in Altlandsberg Mut machen kann. Hier tanzte ZINADA im Mai 2025.

Initiiert wurde der Auftritt vom Netzwerk Tanz für junges Publikum explore dance, das Kinder und Jugendliche direkt mit zeitgenössischem Tanz in Berührung bringt und den Bereich für junges Publikum bundesweit etablieren möchte.

Ein zentraler Baustein sind die sogenannten Pop Up-Stücke, zu denen auch WUW gehört: mobile Produktionen, die ohne große Bühnentechnik auskommen und dort stattfinden, wo sich das junge Publikum ohnehin aufhält – in Schulräumen, Sporthallen, Aulen. In einer Kleinstadt wie Altlandsberg spiele man besonders gerne. „Wir wollen mit Tanz dahin gehen, wo er normalerweise nicht vorkommt“, sagt Johanna Simon, Projektleiterin bei explore dance.

„Das ist wie ein Niesen – man kann es nicht unterdrücken“

Moderner Tanz kann emotional herausfordern. Das zeigt sich deutlich in den Reaktionen des jungen Publikums. Darin, dass ZINADAs Performance ganz ohne Worte auskommt, liegt dabei eine besondere Stärke: Eine Direktheit entsteht, die den Jugendlichen unmittelbaren Zugang zum Thema verschafft.

Das löst bei manchem sichtbare Irritationen aus: Ein Junge sitzt mit hochrotem Kopf am Rand, vermeidet den Blick zur Bühne, lacht verlegen und unkontrolliert. „Das ist wie ein Niesen“, sagt Lehrerin Anne Schnetzinger verständnisvoll über den lachenden Schüler, „Man kann es nicht unterdrücken.“ Es sei wichtig, die Schüler*innen bei solchen Gefühlsausbrüchen zu unterstützen.

Dass die Schüler*innen am neuen Gymnasium Strausberg II überhaupt solche Performances sehen, ist Schnetzinger zu verdanken. Seit 2018 unterrichtet sie Kunst in Altlandsberg im Märkischen Oderland, eine Stunde von Berlin entfernt. Den hier lebenden Kindern und Jugendlichen nicht nur Kunstgeschichtsunterricht zu erteilen, sondern ihnen Zeitgenössisches vorzustellen, ist ihr wichtig.

WUW in Brandenburg mit einer Performerin vor Schülerinnen
WUW in Brandenburg mit den

Die Suche nach Worten für individuelles Empfinden

Über das Erlebte, über ihre Gefühle und ihre Interpretationen reden die Jugendlichen im Anschluss an die Performance im Workshop. Sie bilden einen großen Kreis um Jin Lee und suchen gemeinsam nach Worten für ihr individuelles Empfinden. Stifte und gelbe Haftnotizen werden verteilt. Sie schreiben zwei Worte auf: Ein Gefühl, das sie beim Zusehen hatten, und den Körperteil, in dem sie es spüren. „Glück und Kopf“ schreibt eine Schülerin auf, und klebt den Zettel auf ihre Stirn. „Verzweiflung und Kopf“ schreibt eine andere – und klebt sich den Zettel dann doch ans Herz.

Schüler*innen in einer Turnhalle bilden einen großen Kreis um eine Tänzerin

„Genau aus diesem Grund mache ich meinen Job“, sagt Schnetzinger: „Um den Jugendlichen Türen zu öffnen.“ Nicht nur zu Kunst wie modernem Tanz, sondern zu anderen Formen des Denkens, Fühlens und des darüber Sprechens will die Lehrerin Zugänge bieten. „Gerade hier auf dem Land wird Körperlichkeit oft nur mit Leistung verknüpft“, sagt sie. „Aber was passiert, wenn wir anfangen, mit dem Körper über Dinge zu sprechen, die man nicht in Worte fassen kann?“

Eine Performerin sitzt in der Mitte eines Kreises von Schüler*innen
Blaue Wand mit gelben Klebezetteln, auf denen Schüler*innen ihre Gefühle notiert haben

An Brandenburgs Schulen seien Kinder oft gut im Sport und im Funktionieren. Doch wenn es um ihre Gefühle geht, würden sie leise. Und genau das mache die Arbeit von explore dance und Performances wie die von ZINADA so wertvoll: „Da geht es um Dinge, mit denen Kinder nicht umgehen können, weil niemand mit ihnen darüber spricht, wie es geht. Aber die Reaktionen zeigen es ja: Die Gefühle sind da.“

„Auf dem Land fehlt oft die Begegnung mit Menschen, die anders sind“

Wie wichtig es ist, Emotionen mit Jugendlichen zu thematisieren, unterstreicht Jin Lee von ZINADA mit einer Erzählung: Nach einer Vorstellung vor einer sechsten Klasse in Potsdam trat ein Mädchen auf sie zu und fragte: „Hast du das echt so erlebt?“

Die Zwölfjährige erzählte, sie leide unter Depressionen und könne mit ihren Eltern nicht darüber sprechen. „Sie fühlte sich, als würde sie von ihnen behandelt wie eine Gefahr“, erzählt Lee. „Sie war zwölf und fühlte sich schwer depressiv, und da war niemand, der ihr damit hilft. Das hat mich unheimlich traurig gemacht.“ Sie machte dem Mädchen Mut: „Ich habe zu ihr gesagt: Du findest deinen Weg, so wie ich meinen gefunden habe. Deiner wird anders als meiner sein, aber ich weiß, du wirst ihn finden!“

Solche Begegnungen mit zuhörenden Erwachsenen, sagt Lee, seien in ihrer Kindheit selten gewesen – und sind auch heute nicht selbstverständlich. „Ich habe als Kind gelernt, dass meine Art zu sein falsch ist“, erzählt sie. „Ich war immer zu viel. Zu laut, zu wild. Und ständig wurde mir gesagt, wie ein Mädchen zu sein hat.“

Auch heute begegnet sie in ihrer Arbeit noch Vorurteilen – vor allem, wenn sie wie hier mit explore dance in eher ländlichen Regionen unterwegs ist. Dort sei der Umgang oft weniger offen, manchmal spüre man subtile Ablehnung, manchmal offene Irritation. In Großstädten wie Berlin, München, Hamburg oder Potsdam hingegen sei die Resonanz viel offener, diverser. „Auf dem Land begegnen mir Sexismus und Rassismus öfter“, sagt sie. „Ich habe festgestellt, beides geht Hand in Hand, auch bei Kindern schon.“

Eigentlich begrüße sie diese Vorfälle aber, denn: „Es ist gut, wenn das sichtbar wird. Dann kann man es besprechen.“ Jin Lee spricht Schüler*innen, die sich so verhalten, auf der Stelle an. Sie werde das später vor der Klasse besprechen, sagt sie dann, „aber ohne Namen zu nennen“. Oft fehle abseits der großen Städte die Auseinandersetzung mit Diversität – oder schlicht die Begegnung mit Menschen, die anders sind. „Gerade darum wollen wir dort auch präsent sein.“

David Schmidt ist freier Journalist und lebt in Berlin. www.davidhansmoritzschmidt.de

explore dance hat in den sieben Jahren seines Bestehens bereits 35 Tanzstücke für Kinder und Jugendliche verschiedener Altersstufen produziert, darunter Bühnen- und mobile Pop Up-Stücke, die bundesweit in über 600 Vorstellungen auf Bühnen, in Klassenzimmern und im öffentlichen Raum in der Stadt und auf dem Land gezeigt wurden – von Altlandsberg bis Lalling, von Bergen (auf Rügen) bis Eisenhüttenstadt, von Osnabrück über Braunschweig bis nach Berlin.