Foto: Angelique Preau

Zuhören, Einfühlen und Mitmachen

Ein Festivalbericht zum explore dance Festival #3 in Potsdam.

Von Astrid Priebs-Tröger und einer Einleitung von Oskar Smollny | 30. Mai 2022

Vom 20.-26.03.2022 fand in Potsdam das 3. Festival für junges Publikum von explore dance statt. Unter dem Motto „Freiräume ertanzen“ erlebten Besucher*innen eine Woche voll von Tanz, Workshops und Performances. Begleitend zu den Bühnenproduktionen und Pop Ups von sieben explore dance-Choreograph*innen wurde die Woche mit dem Symposium Tanz für junges Publikum für alle und überall eröffnet.

Tanz für junges Publikum ist noch lange nicht vollumfänglich im Kulturangebot für Kinder und Jugendliche etabliert. In einigen Orten, vor allem Großstädten, ist ein kontinuierliches Rezeptionsangebot im Aufbau, das jedoch zumeist nur auf temporärer Förderung basiert. Die körperfokussierte Kunstform Tanz besitzt das große Potenzial, dauerhaft eine wichtige Rolle in Kulturrezeption und -teilhabe für Kinder und Jugendliche zu übernehmen – vorausgesetzt sie wird in den kommenden Jahren strukturell und kulturpolitisch gestärkt.

In einem Diskursformat mit Beiträgen von Dörte Wolter (MECKLENBURG-VORPOMMERN TANZT AN) und Dörte Simon Rihn (Schulleiterin der Gemeinschaftsschule im Kloster Stift zum Heiligengrabe) wurde sich der Frage gewidmet, welche Voraussetzungen es braucht, um Tanz für junges Publikum auch jenseits der Großstädte möglichst vielen Kindern und Jugendlichen zugänglich zu machen – egal ob in der Fläche oder der Metropole. Welche künstlerischen Praxen und Angebote der kulturelle Bildung sind im ländlichen Raum möglich, wichtig und umsetzbar? Welche Erfahrungen gibt es in der Fläche mit mit Tanz und anderen Kunstformen?

Foto: Angelique Preau

Was für einen wichtigen Platz Tanz in der Kulturlandschaft einnimmt und welchen Beitrag er zur (politischen) Entwicklung junger Menschen leisten kann, hat sich die Potsdam Kulturjournalistin Astrid Priebs-Tröger während des Festivals angeguckt und ihre Eindrücke der vielfältigen Stücke im folgenden zusammengefasst.

Fotos: Angelique Preau

Ein Festival für junges Publikum

Linsensamen, Erdwürmer, Pappkartons, wie Sisyphus arbeiten oder sich 1000 mal küssen – das waren einige der Materialien und Themen, die an den sechs Festivaltagen des 3. Explore Dance-Festivals in der fabrik Potsdam fast 700 Kinder ab 6 und Jugendliche ab 12 Jahren in den Bann zogen.

Dabei ist es nicht leicht, im Angesicht der derzeitig überall gleichzeitig aufbrechenden Krisen vor allem mit Grundschulkindern über (ihre) Zukunft zu sprechen. Die Schweizer Choreographin Lea Moro, die am 20. März 2022 das Explore Dance-Festival eröffnete, hat diesen Versuch mit Ohren sehen unternommen, und er ist gelungen.

Kindliche Vorstellungskraft stärken

Denn Moro hat sehr unterschiedliche Mittel und Wege gefunden, die gegenwärtigen Probleme nicht zu verschweigen, aber gleichzeitig auch die kindliche Vorstellungskraft – nicht nur für die Zukunft städtischen (Zusammen-)Lebens – zu stärken.

Ihr abwechslungsreicher Mitmach-Parcours begann im Theaterraum. Hier wurden die Grundschüler*innen im vibrierenden Halbdunkel mit einem Erdenwurm bekannt gemacht, der aus dem riesigen Koloss in der Bühnenmitte kriecht und von dort ins staubige Stadtleben eintaucht.

Kurz darauf traten dann alle Zuschauer*innen in drei Gruppen aufgeteilt und mit Kopfhörern auf den Ohren ins Freie und näherten sich den Elementen Erde, Wasser, Pflanzen, Tiere und Luft rund um die fabrik Potsdam zuerst sehr handfest, dann auch poetisch und träumerisch und zuletzt tanzend an.

Das trainierte die eigenen Sinne und fühlte sich meistens gut, beim Gulli auch ziemlich komisch an.

Energien von bergender Gemeinschaft spüren

Märchenhaft und zugleich spielerisch waren hingegen die nächsten Stationen. Der Geschichte von der Wasserquelle und der Schlange mit geschlossenen Augen zu lauschen und dabei ein Seil beständig durch alle Hände gleiten zu lassen, setzte viele Assoziationen frei. Auch die Imagination eines heraufziehenden Sturmes und die Energie von bergender Gemeinschaft stärkte die eigene Fantasie.

Zum Ende hin ging es noch einmal konkreter um Entwürfe, die ein Zusammenleben in der Stadt der Zukunft, „die weich und kuschelig und warm sein wird, weil wir die Klimaziele nicht erreichen“ möglich machen sollen. „Freiräume ertanzen“, so lautete auch das Motto dieses Festivals, fühlte sich auf den fabrik-Grünflächen gut an und auch die eingesprochenen Texte über die Flechten luden zum assoziativen Nachdenken ein.

Schade war nur, dass am Ende, als alle wieder auf der fabrik-Bühne saßen, die Wünsche, Ideen und Vorschläge der Kinder nur auf die metallisch glänzende Oberfläche des sich jetzt dort imaginierten Wasserbeckens geflüstert werden sollten. Es hätte mich schon interessiert, was die Stadtbewohner*innen von morgen selbst über ihre, unsere Zukunft denken.

Foto: Angelique Preau

Umdeutung klassischer Mythen

Zwei weitere Inszenierungen komplettierten den ersten Festivaltag. Am Nachmittag konnte man auf der Probebühne des T-Werks „Sisyphos“ begegnen. Immer noch ist Sisyphusarbeit ein geflügeltes Wort für eine ertraglose und dabei schwere Tätigkeit ohne absehbares Ende.

Doch schon als Anne Zacho Sogaard, Hermann Heisig und Thomas Proksch mit Gymnastik-Ball, Klapp-Leiter und Schaumstoffplatten zur Tür hereintanzten, dabei Zischlaute imitierend einen Rhythmus erzeugten, war klar, dass der klassische antike Mythos hier eine Umdeutung erfahren würde.

Heisig erzählte abschnittsweise die Geschichte des antiken Helden, der mehrmals den Todesgott Thanatos austrickst und schließlich mittels der Aufgabe, einen Stein auf einen Berg zu rollen, zum „ewigen Leben“ verdammt ist.

Klasse, wie die körperlich sehr unterschiedlichen Akteure dies tänzerisch, musikalisch und auch erzählerisch bewerkstelligten. Und schließlich ihre ganz eigene, sehr zeitgemäße Definition von Sisyphusarbeit finden, die mittels Pausen und der Fähigkeit, Wiederholungen und Scheitern auch spielerisch genießen zu können, schließlich doch zum Glücklichsein führen kann. Auch hier konnten die jungen Zuschauer*innen im Anschluss über das Gesehene diskutieren. Die Energie und den Witz von Happy Sisyphos werden die Jungen zukünftig mehr denn je gebrauchen können.

Mit den jungen Zuschauer*innen diskutieren

In zwei Inszenierungen des zweiten Festivaltages, der sich vorwiegend an jugendliches Publikum richtete, spielten Mauern eine wichtige Rolle. In PayPer Play eine die Bühne umschließende aus mehreren hundert Pappkartons und in This Wall Has No Title waren es Steinmauern, die sich in Stadträumen befinden und mit StreetArt versehen waren.

Beide Inszenierungen stammten von etablierten italienischen Choreograph*innen und zeigten in künstlerisch sehr unterschiedlicher Art verstörende Bilder, die an die (Alb-)Träume der westlichen Welt und deren gerade sichtbar werdenden Konsequenzen rührten.

Foto: Mehmet Vanli

Verstörende Bilder von den Albträumen der westlichen Welt

In This Wall Has No Title von Martina La Ragione und Andrea Rampazzo korrespondierte die Eingangssequenz mit René Magrittes berühmtem surrealistischen Gemälde „Die Liebenden“ von 1928.

In den ersten Momenten von This Wall Has No Title waren zwei Menschen zu sehen, deren Köpfe und Oberkörper wie auf dem Gemälde weiß verhüllt sind und die sich eng umschlungen tanzend bewegen beziehungsweise aneinander festhalten.

Später flackern Wortgruppen wie „It’s a free country“, „Welcome to hell“ oder „I don’t believe anything“ über die Wand hinter ihnen und die beiden Menschen verschwinden fast vollständig hinter einem zweidimensionalen elektronischen Barcode, dem sie lediglich durch eigene Bewegung etwas entgegensetzen respektive entkommen können.

In Andrea Costanzo Martinis PayPer Play geht es ebenfalls um Kommerz. Pay-Per-Play ist ein Begriff aus dem E-Commerce und bedeutet „pro Spiel bezahlen“. Das „Spiel“ findet hier zwischen übermannshohen Pappkartonwänden statt, zwischen denen ein Junge im Schlafanzug zuerst traumwandlerisch tanzt und nach und nach immer mehr konsumiert.

Foto: Yair Meyuhas

Einsamkeit und Konsum – Die Macht der Dinge

Weil er zwischen den leblosen Pappgegenständen trotzdem einsam ist, ordert er per Bildschirm einen Spielkameraden, der zwar schnell spiegelbildlich von ihm lernt, mit ihm jedoch keine wirkliche Beziehung aufbauen kann. Die ergibt sich erst auf Augenhöhe, als eine weibliche Ergänzung für den Spielkameraden per Klick geordert wird.

Martinis Inszenierung findet originelle und subtil nachwirkende Bilder für die Macht der Dinge, die uns inzwischen alle beherrschen; sie zeigt deren Wechselwirkung mit der menschlichen Psyche und letztendlich die Vernichtung alles Natürlichen, den Menschen eingeschlossen. Auch wenn dies hier betont spielerisch und in einer skurrilen Traum(tanz-)welt daherkommt, wird es konsequent bis zum bitteren Ende erzählt.

Auch La Ragiones This Wall Has No Title fand für die seelische Verwüstung des modernen Menschen am Schluss ein starkes Bild – die Projektion einer überdimensionierten Kinderzeichnung eines Menschen mit weit aufgerissenem Mund, die wiederum Edvard Munchs „Schrei“ in bildhafte Erinnerung ruft.

Und während diese Inszenierungen Bezug auf bedeutende Kunstwerke des vergangenen Jahrhunderts nahmen, spielte 1000 Kisses von Raymond Liew Jin Pin und Jascha Viehstädt im Hier und Jetzt und untersuchte ganz direkt, ob es möglich ist, sich tausend Mal zu küssen, ohne dass es erneut in Sisyphusarbeit ausartet. Das Festival jedenfalls begeisterte mit Vielfältig- und Leichtigkeit und gerade die jüngeren Kinder ließen sich fröhlich und bereitwillig auf die Möglichkeiten des Mitmachens ein.