DIE KOMPLEXITÄT VON WELT ZULASSEN
DENNIS DETER & LEA MARTINI – EINE GESCHICHTE DER WELT | 24. Mai 2019
Die Berliner Choreograph*innen Dennis Deter und Lea Martini haben sich gemeinsam mit ihrem Team und zwei Potsdamer Grundschulklassen an eine große Frage gewagt: Woraus ist das Universum entstanden? Eine Geschichte der Welt, das im Rahmen von explore dance – Tanzpakt Stadt-Land-Bund entwickelt wurde, wirft gewohnte Bildungsansprüche über Bord.
Von Christine Matschke
1977 schickten die Amerikaner das Raumschiff „Voyager“ ins All, beladen mit einer Fracht, die die Welt repräsentieren sollte. „Sie wurden nicht gefragt, einen Beitrag zu dieser Repräsentation zu leisten und ich auch nicht. Was für eine Welt wollte man repräsentieren, wenn Sie und ich nicht gefragt wurden?“, schreibt der britische Filmregisseur und Experimentalkünstler Peter Greenaway anlässlich einer 1992 von ihm kuratierten Ausstellung. In „100 Objects to represent the world“ („100 Objekte dieser Welt“) versuchte er eine vergleichbare Repräsentation der ganzen irdischen Welt auf wenigen Quadratmetern Ausstellungsfläche zu installieren – eine Karikatur auf das menschliche Bestreben, alles vollständig und enzyklopädisch darstellen zu wollen.
Ein wenig größenwahnsinnig wirkt auch das von Dennis Deter und Lea Martini im Rahmen von explore dance an der fabrik Potsdam initiierte Projekt Eine Geschichte der Welt. Gemeinsam mit zwei Potsdamer Grundschulklassen sind sie der Frage nachgegangen, woraus das Universum entstanden ist.
AM ANFANG …
Zu der vorletzten von insgesamt 6 Begegnungen, welche die 2. Klasse der Gerhart-Hauptmann-Grundschule mit den Künstler*innen hat, bringe ich eine Handvoll Objekte mit. Jedes davon steht für eine Interviewfrage. Hinter der Figur der Matroschka etwa versteckt sich „Die große Frage“. Will heißen, jene nach dem Ursprung des Universums. Das sei vermutlich bereits für Erwachsene eine ziemlich schwierige Frage, werfe ich bei unserem Gespräch ein. Irrtum. Denn für die Kinder ist die Antwort ziemlich klar: „Durch den Urknall ist die Erde entstanden“, ruft ein Mädchen aufgeregt. Weitere Kinder sprudeln munter drauf los: „Zuerst war da nur Wasser. Dann wurden die Fische entwickelt“. Eine Junge ergänzt: „Dann kamen die Amphibien. Dann die Reptilien und die Dinosaurier – das sind ja Reptilien. Dann die Säugetiere. Fertig ist die Geschichte!“
… WAR DAS CHAOS
Ganz so eindeutig und linear wie die Theorie von der Entstehung des Lebens funktioniert Eine Geschichte der Welt jedoch nicht. Die abstrahierten szenischen Bilder, die Martini und Deter zusammen mit der Tänzerin Johanna Ackva und der Bühnen- und Kostümbildnerin Filomena Krause entwerfen, lassen viel Spielraum für die eigene Vorstellungskraft. Und die ist bei den kleinen Experten groß. Nach einem kurzen körperlichen Warm-Up für alle Anwesenden kommt Lea Martini, versteckt in einer riesigen grauen Fellkugel, auf den an diesem Vormittag als Bühne fungierenden Teil des Studios. Keck schubst sie eine Reihe von Bällen zur Seite, die der Größe nach sortiert sind und setzt sich selbst zuvorderst. Mit dem Einsetzen einer neuen musikalischen Phrase hebt sie die Kugel an: Ihre Füße kommen zum Vorschein. Betont gesetzten Schrittes und mit augenzwinkernder Erhabenheit marschiert die Kugelfüßlerin durch ein Feld aus gelben Tischtennisbällen und wirft mit gegrätschten Beinen hier und da ein paar kleine Fellkugeln ab.
Später, im Feedbackgespräch fragt Lea Martini die Kinder, was sie gesehen hätten. Es scheint mindestens so viele Antworten wie Kinder zu geben und das sind immerhin 26. Kurzum: Die riesige Fellkugel wird wahlweise mit „einem Riesenmeerschwein“, „einem Felsen“, „der Erde“, „dem Mond“ und der „Sonne“ assoziiert. Die Fellkügelchen erinnern die Schüler*innen an Exkremente, „Eier“, „kleine Kugeln, aus denen neue Welten entstehen“, aber auch an Teile einer aufgrund von Umweltverschmutzung kaputtgehenden Erde. Überhaupt schreiben sie der Riesenkugel sowohl zerstörerische als schöpferische Fähigkeiten zu. Die Tischtennisbälle markieren die Umgebung der größeren Objekte und werden als „Luftbläschen“ und „Sterne“ benannt.
TEILHABE AUF AUGENHÖHE
Der gemeinsam mit Kindern und Jugendlichen angekurbelte Arbeitsprozess ist der Ausgangspunkt für die Produktionen von explore dance. Dabei sind die Projekte bewusst nicht im Sinne tanzpädagogischer Workshops angelegt. „Wir arbeiten ernsthaft an der Frage, wie wir die Kinder am Prozess teilhaben lassen können und welche Möglichkeiten wir haben, sie auf einer körperlichen, visuellen und intellektuellen Ebene zu informieren“, erzählt Lea Martini beim Gespräch in der Küche der fabrik Potsdam. Dabei greifen die Künstler*innen auf Methoden aus Tanzworkshops und Gesprächsformate zurück, die sie auch in ihrer Arbeit mit Kollegen nutzen. „Wir wollen kein Stück machen, was nur auf eine bestimmte Zielgruppe zugeschnitten ist, sondern agieren mit der Praxis, die wir schon kennen und bringen dabei unsere eigene künstlerische Sprache ein“, ergänzt Dennis Deter. Die Schüler*innen, die am Projekt mitwirken, übernehmen die Rolle eines Outside Eye, also eine Art dramaturgische Beratung – Was funktioniert, was nicht …?
WISSEN DIE ERWACHSENEN WIRKLICH SO VIEL MEHR?
Beim allerersten Treffen mit den Kindergruppen – neben der zweiten Klasse finden auch regelmäßige Begegnungen mit einer sechsten Klasse statt – wird ein gemeinsames Brainstorming gemacht, alle beginnen zusammen bei Null, mit ihrem jeweiligen Wissensstand. Auf Augenhöhe ist auch das Thema von Eine Geschichte der Welt angesetzt. „Um die Eindeutigkeit eines großen Narrativs aufzubrechen, musste es etwas sein, das alle betrifft und im Bereich der Spekulation liegt. Wir wissen nicht, was die Wissenschaft in 100 Jahren über die Entstehung des Universums sagen wird“, erklärt Martini. Johanna Ackva fügt hinzu: „Ich weiß darüber wahrscheinlich nicht mehr als in der Grundschule. Das Level, auf dem man über solche großen Themen lernt und auf dem man sie versteht, ist relativ niedrig, außer man beschäftigt sich damit wissenschaftlich. Als Erwachsener beschäftigt man sich mit diesem Thema auch nicht viel komplexer oder weiß vielleicht noch weniger darüber als die Schulkinder.“
OFFENHEIT WAHREN
Im Gegensatz zu vielen Erwachsenen können Kinder sehr gut mit Abstraktion umgehen. „Während die Erwachsenen oft skeptisch sind und verstehen wollen, haben die Kinder gleich Ideen, worum es sich dreht“, weiß die Bühnen- und Kostümbildnerin Filomena Krause zu berichten. Diese Klarheit schätzt auch Deter an den Zweitklässlern, der sonst mit Jugendlichen arbeitet: „Sie haben eine wahnsinnige Offenheit und gleichzeitig ist das, was sie sagen so prägnant“. Auffällig ist während der Begegnung an diesem Vormittag auch, wie offen die Kinder in ihren Assoziationen bleiben, obwohl sie sich thematisch im „Weltall“ bewegen. Sie engen sich nicht ein: „Wenn ein oder zwei Kinder schon etwas gesagt haben, ist das nicht die Definition davon“, bemerkt Martini. Es werden auch Gedanken ausgesprochen, die andere bereits geäußert haben. Konkurrenz spielt hier keine Rolle.
NEUE PERSPEKTIVEN UND ANDERE KONTEXTE
Was an Projekten, wie dem von Dennis Deter, Lea Martini und ihrem Team deutlich wird, ist, dass Wissensbildung keine Einbahnstraße ist, sondern als ein gegenseitiges Voneinanderlernen funktionieren kann. Und ist das nicht die beste Möglichkeit, um laterales Denken, also Querdenken anzuregen? Mit ihren Besuchen in der fabrik Potsdam, erleben die Kinder eine Ausnahme-Situation. Vielleicht ist es genau dieses Sich-Umgeben mit einem anderen Kontext, wie Ackva vermutet, die ein Mädchen beim Interview auf die Frage, was bei den Begegnungen mit den Künstler*innen anders ist als in der Schule, sagen lässt: „Ich kann mich hier besser konzentrieren und mir Dinge besser merken.“ Die Kinder berichten zudem, dass sie das Gefühl haben, die Künstler*innen zu unterstützen. Es sei gut, dass sie ihre Ideen jemanden zeigten, bevor sie dann vor dem echten Publikum sitzen. Auch sei es gut, dass Kinder auch mal bestimmen dürfen.
Letztendlich zeichnet sich die gemeinsame Praxis der Künstler*innen dadurch aus, innerhalb flacher Hierarchien und außerhalb feststehender Kategorien, also auch jenseits eines Falsch und Richtig zu agieren. Während eines Bewegungsspiels, bei dem die Kinder sich in verschiedene Lebewesen verwandeln dürfen, wird die Existenz „fliegender Elefanten“ darum auch nicht per se ausgeschlossen, wie Deter erzählt.
WIE NAVIGIEREN IN EINER IMMER KOMPLEXER WERDENDEN WELT?
In Zeiten des Internets ist das Wissen dieser Welt zugänglicher als jemals zuvor, aber auch unüberschaubarer geworden. Gerade weil eindeutige Bedeutungszuschreibungen nicht mehr möglich sind, ist es für Kinder wichtig, sich selbstbestimmt und kritisch in der Flut an Informationen zurechtzufinden. So schreibt die Autorin, Theaterpädagogin und Lehrerin Maike Plath in ihrem im Rahmen des FRATZ Festivals 2015 veröffentlichen Beitrag „Der konstruktive Moment von Bildung“: „Wir ordnen die Fakten der Welt immer wieder neu, sie sind ständig in Bewegung und führen zu immer neuen, komplexeren Deutungen. Je mehr wir zum persönlichen Fragen und Forschen angeregt werden, desto begieriger sind wir darauf, Neues zu erfahren und desto umfangreicher und komplexer wird unser Wissen. Aus der Summe all dieser Bedeutungszuschreibungen (…) entsteht das Konstrukt unserer Biografie. Je autonomer wir diesen Wachstumsprozess gestalten dürfen, desto selbstbestimmter erleben wir uns in dieser Welt und desto größer wird unsere Kompetenz, diese Welt mit zu gestalten und zu verändern“.
ERWARTUNGEN AUFGEBEN
Den kindlichen „Eigensinn“ zu stärken, wie Plath es nennt, sei eine wichtige Voraussetzung, um andere Perspektiven auf Welt zulassen zu können. Dabei greift sie auf die Gedanken des Philosophen und Kommunikationswissenschaftlers Vilém Flusser und seine Idee „Von der Freiheit des Migranten“ zurück. Ein wesentlicher Aspekt ist dabei Flussers Begriff vom „Entsetzen“: „Nur derjenige, der seine Heimat verlassen hat oder aus ihr vertrieben wurde, kann in den scheinbaren Wichtigkeiten der kulturellen Heimat, das Banale, nämlich das Austauschbare erkennen und zu einer konstruktiven, weil offeneren Weltsicht gelangen. Der Abschied vom «Richtigkeitsanspruch» des vertraut gewordenen, kulturell verabredeten Gedankenguts ist schmerzhaft. Daher spricht Flusser von einem >entsetzten< Zustand. Nur wer vorher gesessen hat, kann «entsetzt» werden. Entsetzen ist kein angenehmer Zustand. Aber er führt zu einer neuen, erweiterten Sicht der Dinge“.
WAS FÜR EINE WELT REPRÄSENTIEREN?
Insofern war auch ich angenehm «entsetzt», als sich herausstellte, dass „Die große Frage“ für Erwachsene nicht leichter zu beantworten ist als für Kinder, vielleicht sogar eher schwerer. Und um auf Greenaway zurückzukommen: Angenommen, ein weiteres Raumschiff startet ins Weltall: Welche Gegenstände würden wir in seinen Laderaum legen und wer sollte die Auswahl treffen? Vielleicht wäre es ein Chip mit einer Aufzeichnung von Eine Geschichte der Welt. In einer Szene der Aufführung tanzen die Performer*innen in aufgeblasenen Anzügen und voller kokettierender Selbstverliebtheit über die Bühne. Im größten Teil des Stücks aber verschwinden sie in schwarzen Ganzkörperanzügen. „Selbst, wenn der Mensch irgendwann mal weg ist, geht es ja trotzdem weiter“, meint Martini.