DIE EWIGE LIBELLE

MAY ZARHY: LIBELLE

Unser Alltag ist heute nicht mehr derselbe wie vor 14 Monaten. Dies musste auch das Team um May Zarhy erfahren, dessen Stück Libelle um ein Jahr verschoben wurde. Nico Grüninger, der in seiner Rolle als Mentor das Stück vor und nach der langen Pause besucht hat, schildert seine Eindrücke und erlebt am Ende seinen ganz eigenen Moment von Ewigkeit.

Von Nico Grüninger | 29. Mai 2021

München, Ende Februar 2020: Die erste Probenphase von Libelle nähert sich seinem Ende. Nach mehreren Wochen des Ausprobierens und Materialsammelns steht dem Team um May Zarhy eine letzte Pause vor den Endproben bevor. Noch herrscht weitestgehend die Normalität, wie wir sie bis dahin kannten. Man quetscht sich in volle Straßenbahnen, umarmt und küsst Freunde, Bekannte und Unbekannte, sitzt dicht an dicht im Theater und tanzt in engen, stickigen Clubs. Doch seit einigen Tagen haben sich in die Gespräche Begriffe eingeschlichen, die uns beunruhigen, auch wenn wir sie noch nicht allzu ernst nehmen wollen: Exponentielles Wachstum, Handhygiene, Abstände, Kapazitätsbeschränkungen, Grenzschließungen… Wenige Tage später wird alles still. An Endproben und Vorstellungen ist nicht mehr zu denken. Man fragt sich, ob diese Krise mehrere Monate dauern könnte. An Jahre denkt noch niemand.

 

Ein Jahr vergeht

Jetzt, im Mai 2021, über 14 Monate oder eine halbe Ewigkeit später, ist München noch immer weit entfernt von früheren Selbstverständlichkeiten. Aber die Premiere von Libelle wird nun definitiv stattfinden – sogar mit ein wenig Publikum! Der Weg dahin war für das gesamte Team lang und kompliziert. Die mehrfachen Verschiebungen erforderten ständige Planänderungen und Koordination mit anderen Projekten, was zu personellen Wechseln innerhalb der Crew führte. Und auch inhaltlich waren Änderungen unumgänglich. Ursprünglich hätte Gesang auf der Bühne eine wichtige Rolle gespielt, auch unter Einbezug der Kinder im Publikum. Von dieser Idee musste sich May Zarhy aus den bekannten Gründen verabschieden und gemeinsam mit der Musikerin Lena Geue ein neues musikalisches Konzept erarbeiten. Das Team blieb im vergangenen Jahr in virtuellem Kontakt, es gab auch einige Versuche, die Proben via Zoom fortzusetzen. Doch obschon May diese Erfahrungen als wertvoll betrachtet, wurde ihr ein für alle Mal klar, dass sie in Bezug auf Tanz wirklich die realen Körper im Raum braucht. Nach dem ersten, strikten Lockdown war sie an ihrem Wohnort in Tel Aviv immer wieder in kleinen Gruppen im Tanzstudio und konnte dort aufgrund der besseren gesundheitlichen Lage bereits wieder ein Solo vor Publikum zeigen. Auch die weiteren Teammitglieder (Elpida Orfanidou, Susanne Grau (Performance), Federico Protto (Ausstattung), Dennis Dieter Kopp (Lichtdesign) ) haben in der Zwischenzeit in anderen Projekten ihre Erfahrungen mit den veränderten Bedingungen gemacht. Das Wiedersehen habe sich wie eine Belohnung angefühlt. Dank täglicher Tests ist die Probebühne eine Art Insel, in der auch die für den Kreationsprozess so zentrale körperliche Nähe möglich ist. May spricht von einer großen Befriedigung, der Arbeit nachgehen zu können, die sie erfüllt. Ein Privileg, das niemals als selbstverständlich gelten dürfe.
Die Geschichte dieser Produktion ist eine, wie sie sich in den vergangenen Monaten tausendfach abgespielt hat. So oder ähnlich, in allen Erdteilen. Und trotzdem ist sie einzigartig und erzählenswert.

 

Wesen in gleißendem Licht

Eine Woche vor der Premiere herrscht im Probenstudio an der Auenstraße reger Betrieb. Für einen Probedurchlauf konnte ein Testpublikum von sieben Kindern gewonnen werden. Sieben Kinder – wie wunderbar! Denn wie soll ein Stück für junges Publikum ohne dessen Einbezug in den Probenprozess gelingen? Die Regeln sind zwar nach wie vor streng: Alle Kinder tragen Maske, halten Abstand, die erwachsenen Begleitpersonen werden zusätzlich getestet und es wird regelmäßig gelüftet. Aber nachdem alle sitzen und es still wird im Publikum, spielen die ganzen Einschränkungen und Vorgaben keine Rolle mehr. Ein rhythmisches Klopfen setzt ein. Zwei Wesen betreten die Landschaft, die in gleißendes Licht getaucht ist. Ihre Bewegungen sind gleich und doch verschieden, wechseln zwischen schnell und langsam, zwischen weich und roboterhaft eckig. Kennen sich die beiden? Sind sie vielleicht sogar ein und dasselbe? Oder begegnen sie sich gerade zum ersten Mal? Neue Geräusche und Melodien setzen ein. Macht die Musik die Bewegungen oder die Bewegungen die Musik? Erzeugen die verschiedenen Materialien die Geräusche oder richtet sich alles nach dem Licht? Die zwei Wesen – oder sind es plötzlich mehr als zwei? – beginnen ebenfalls, Laute von sich zu geben. Sie verschwinden, tauchen wieder auf. Die Umgebung verändert sich – und auch die Wesen selber machen verschiedene Verwandlungen durch. Sind wir jetzt plötzlich auf einem Laufsteg gelandet? Wind setzt ein. Eine große weiße Nebelschwade zieht auf – oder ist es Wasser, eine Gletscherzunge, ein riesiges Kleid? Alles schimmert und glitzert, wogt, rauscht und wabert – und dann, auf einmal, ist alles vorbei. Auf der Probebühne stehen zwei Performerinnen, die sich verbeugen.

 

Was sind schon 14 Monate?

Ist das alles gerade wirklich passiert oder hab ich‘s mir nur vorgestellt? Waren meine Augen offen oder geschlossen? Haben die anderen Zuschauer*innen das gleiche gesehen wie ich? Ich weiß es nicht, muss es aber auch gar nicht wissen.
Eines hingegen ist klar: In dieser Welt spielt das Virus keine Rolle. Die Libelle, welche dem Stück seinen Namen gibt, scheint sich sowieso noch nie dafür interessiert zu haben. Sie war schon da, als auf der Erde noch Dinosaurier herumspazierten. 325 Millionen Jahre soll das kleine Tier alt sein. 325 Millionen Jahre. Das lässt einen Hauch von Ewigkeit aufkommen. Was sind dagegen schon 14 Monate!