Foto: Vera Drebusch

DIE ESSENZ DES KUSSES

RAYMOND LIEW JIN PIN & JASCHA VIEHSTÄDT: 1000 KISSES

Was ist die Essenz des Kusses? Wird der Partner fremd in der Wiederholung? In 1000 KISSES erforschen die beiden Choreographen und Tänzer Raymond Liew Jin Pin und Jascha Viehstädt, wie sich die archetypische Geste des Kusses verändert, wenn man ihre Emotionalität durch Zählen relativiert. Die Wissenschaftjournalistin Dr. Stephanie Maeck hat die beiden in Hamburg zu einem Werkstattsgespräch getroffen.

Von Dr. Stephanie Maeck | 29. April 2022

Explore dance: Jascha und Raymond, ihr beide habt Euch für die Proben zu Eurer Performance 1000 Kisses viele tausend Mal geküsst – habt ihr mehr verstanden über den Kuss, oder ist er für Euch sogar rätselhafter geworden?

 

Jascha: Wir suchten mit unserer Arbeit den Über-Kuss, so etwas wie die Essenz des Kusses. Das Ergebnis sollte zeigen, was ist das, ein Kuss? Wir haben den Kuss dazu auseinandergebrochen in einzelne Momente. Wir flochten Verweise an Rituale und Trancemomente ein und haben auch religiöse Momente übersetzt. Am Ende sind viele kleine Assoziationen herausgekommen. Viele der zusehenden Schüler*innen haben dennoch Ideen entwickelt, die uns überraschten. Bemerkenswert für mich war: Irgendwann wurde der Kuss für uns als Tänzer abstrakt – er war nicht mehr mit einer romantischen Geste oder einem Gruß verknüpft, sondern der Kuss wurde zum „Tanzkuss“, vergleichbar einer beliebigen anderen Bewegung, wie etwa das Bein zu heben. An den ersten Probetagen war das Küssen noch emotional aufwühlend, später glich es allen anderen Bewegungen.

Raymond: Eingeflossen in den Probenprozess ist zudem, dass wir auch privat ein Paar sind. Würden zwei Choreographen zusammenarbeiten, die kein Paar sind, ergäbe das vermutlich eine andere Perspektive. Es gibt bei uns immer die Schicht unseres Privatlebens, die beim Tanz berührt wird – nach einer Show fragte uns zum Beispiel ein Schüler, ob das Stück unsere Liebesbeziehung behandele. Vielleicht – aber zunächst ist der Kuss für uns eine Bewegung.

 

Ihr arbeitet auf der Bühne mit der Wiederholung als Stilmittel. Was passiert mit dem Körper, wenn man einen Kuss so oft wiederholt?

 

Raymond: Während der Performance zählen wir, und die Wiederholung wird so augenfällig. In mir als Tänzer tauchen dabei sehr viele Bilder und Emotionen auf, mit denen wir in der Performance weiterarbeiten. Das Begehren, jemanden zu küssen oder die Erwartung, selbst gleich geküsst zu werden, sind verbunden mit vielen Facetten von Gefühlen: Der Körper gerät in einen Zustand der Erwartung.

Jascha: Als Performer sind wir es natürlich gewohnt, uns auf der Bühne zu exponieren. Über die Wiederholung von Bewegungen geraten wir in einen gewissen Zustand, von wo aus wir entwickeln. Über diesen State ergeben sich Bilder und Assoziationen, die wir verknüpfen.

 

Wird der Kusspartner auch fremd in der Wiederholung?

 

Raymond: Umso mehr ich eine Bewegung wiederhole, umso mehr verstehe ich sie und umso deutlicher wurden mir auch der Kuss und zugleich mein Gegenüber. Beim Küssen bemerkte ich viele Dinge, die feuchten Lippen, der Geruch des anderen, der in seiner Sinnlichkeit detailreich wird. Und man fragte sich, warum tun Menschen das eigentlich, sich zu küssen?

 

Eine zentrale Frage. Arbeitet ihr bei der Entwicklung einer Performance denn eher analytisch oder intuitiv?

 

Jascha: Wir hatten zu 1000 Kisses eine lange Vorbereitungsphase, in der wir uns dem Kuss konzeptionell näherten und auch ein bisschen Theorie berücksichtigten. Normalerweise extrahieren wir aus einer Grundidee die Struktur und suchen dazu Bilder. Das gibt uns Sicherheit: Durch die haltgebende Struktur hoffen wir auf intuitive und automatische Prozesse im weiteren Verlauf. Hier hatten wir die Idee zu zählen: Zählen zieht ja auch das Publikum mit, man nimmt im Verlauf eine analytischere Perspektive ein und blickt distanzierter auf den Kuss. Das Zählen verändert also die Bedeutung des Küssens – wie es zuweilen auch zwischen zwei Menschen passiert. Wenn Menschen sich küssen, sind mitunter auch andere Gedanken mit im Spiel: Auf die Kinder aufpassen, Aufgaben im Haushalt, Abgelenktsein durch das Handy. Genauso relativiert das Zählen die Emotionalität des Kusses.

 

Zählen zielt im Gehirn auf das Zentrum für das rational-logische Denken, wohingegen Bewegung eher aus dem Bereich für Emotionalität und Intuition kommt. Ist es auf der Bühne schwierig, beides zusammenzubringen?

 

Jascha: Tatsächlich hat sich diese Schwierigkeit bemerkbar gemacht. Normalerweise spreche ich nicht so viel auf der Bühne. Ich nutze die Zahlen bei diesem Stück als Unterstützung meiner Arbeit. Bei den ersten Proben haben wir uns wild verzählt, manchmal sind wir um 100 Counts zurückgesprungen, ohne es zu bemerken.

 

Raymond, als Hintergrund bringst Du viele verschiedene kulturelle Tanztechniken mit. Fließt in 1000 Kisses viel davon ein?

 

Raymond: Bei dem zuvor realisierten Stück arbeitete ich tatsächlich bewusst mit Referenzen an traditionellem chinesischen, indischen oder malaysischen Tanz. Für 1000 Kisses vertraue ich stärker meinem Embodiment in der Situation: Welche Bewegung braucht es auf der Bühne? Dann übe ich sie aus.

 

Für das Bühnenbild setzt ihr Poolnudeln ein, und teilweise wirkt die Arbeit mit ihnen geradezu skulptural, wenn ein Baum mit Ästen daraus auf der Bühne entsteht.

 

Jascha: Als K3 uns fragte, ob wir eine Performance beisteuern würden, wollten wir konzeptionellen Tanz vorstellen und Bildende Kunst einbeziehen. Daher haben wir für Bühne und Medieneinsatz Balz Isler und Signe Koefoed für die Kostüme gefragt. Balz Isler hat viel im Bereich Performance-Skulptur gearbeitet. Das Bühnenbild sollte einer Skulptur ähneln und für sich stehen können. Andererseits sollte es zugleich einen freien Raum für Assoziationen schaffen. Ab einem gewissen Punkt entwickeln Stücke ein Eigenleben: Der Baum aus Poolnudeln schafft einen Assoziationsraum. Die Schüler*innen hatten dazu so viele Ideen, die uns gar nicht in den Sinn kamen: Was bedeutet es, wenn Du auf dem Baum bist und die einzelnen Äste abreißt? Ein Schüler erblickte in den Ästen die Erwartungen der Gesellschaft gegenüber homosexuellen Paaren und vermutete, dass wir uns diesen Konventionen symbolisch entledigten, wenn wir Äste zu Boden werfen.

 

Inspiriert Euch eine solche Rückmeldung aus dem Publikum?

 

Raymond: Es ist wertvoll, und es ist schön, unser Stück mit den Augen der jungen Zuschauerinnen und Zuschauer neu zu entdecken. Man merkt: Die Performance ist fluide, auch in ihrer Bedeutung. Für uns war es das erste Stück für junges Publikum, daher haben wir überlegt, was wir voraussetzen können an Erfahrungen und Sehgewohnheit. Daher liefern wir auch eine kleine Leseanleitung als Intro.

 

Euer Stück bewegt sich zwischen Anklängen an eine westliche Hypersexualisierung, ist streckenweise aber wiederum regelrecht mediativ und verträumt. Was wolltet Ihr erzählen?

 

Jascha: Wenn sich zwei Männer auf der Bühne küssen, ruft das sexualisierte Kontexte auf – deswegen gehen wir bewusst nicht weiter. Wenn wir uns etwa auf die Pool-Nudeln legen, ist jedes Mal ein Atemstocken im jungen Publikum zu bemerken: Ziehen die sich jetzt aus? Wir deuten mehr an, als die Sexualität des Kusses zu zeigen. In der asiatischen Kultur hat der Kuss eine verträumt-romantische Seite, die wir ebenfalls ansprechen in unserer Inszenierung.

Raymond: Eine Lehrerin merkte an, dass einige Schüler*innen großgeworden seien mit Pornographie im Internet, dass sie aber beim Betrachten des Küssens teilweise kaum hinsehen könnten. Die Jugendlichen sind in der Tat an digitale Welten sehr gewöhnt, aber die direkte Inszenierung weckte auch Scham. Obwohl die Jugendlichen so viele Möglichkeiten haben, sich zu informieren, sind sie heute verunsichert. Da ist viel Druck zu spüren, gut zu küssen, selbst diesen Bereich versuchen sie wie die Bilder auf Instagram noch zu optimieren. Die Resonanz der Jugendlichen etwa durch Kichern im Bühnenraum zu spüren, ist für jede einzelne Performance sehr wichtig

 

Ist die Performance jedes Mal einzigartig?

 

Jascha: Unsere künstlerische Intention ist stets die gleiche, doch was entsteht, ist jedes Mal von Neuem spannend. Spielen wir vor Schüler*innen, so ist die Reaktion direkter als bei Erwachsenen: Jedes Mal fließt Tagesaktualität hinein. Einen Tag sollten die Schüler*innen unmittelbar im Anschluss auf eine Antikriegsdemo. Auch auf der Bühne ging mir durch den Kopf: Wir haben den Angriffskrieg Russlands in der Ukraine – was bedeutet es jetzt, dieses Stück zu sehen und aufzuführen? 1000 Kisses verhandelt so direkt die Themen Gender und Sexualität, da zwei Männer sich auf der Bühne küssen, dass es an jenem Tag zu einem Stück über Freiheit in der Gesellschaft wurde und über die Grenzen dessen, was man äußern darf und was nicht.

 

Zuvor hatten wir Coronazeit und erleben diese teils immer noch mit vielen Einschränkungen: Was bedeutete es, ein so intimes und körperliches Stück in dieser Zeit der Berührungsferne zu realisieren?

 

Jascha: Interessanterweise thematisierte unser Publikum im anschließenden Gespräch nie die Pandemie. Auch bei uns drängte sich das Thema weniger auf. Wir hatten einfach das Bedürfnis, das Stück zu machen. Wir wussten nur in der Vorbereitung nicht, ob wir beim Aufführen Masken würden tragen müssen. Das wäre für die Umsetzung speziell gewesen. Zum Glück regelte sich das. Ich empfinde es als schön, dass das Stück so körperlich ist – vielleicht bringt es dadurch etwas zurück, was wir in den letzten 2 Jahren verloren haben.

 

Eure Performance ist tatsächlich sehr körperlich, beinahe haptisch. Gab es Inspiration aus der Kunstgeschichte? Mich erinnert die Arbeit auch an Marina Abramovic. Auch sie liefert sich in Performances wie The Artist Is Present körperlich auf extreme Weise aus – sich tausend Mal zu küssen, ist ähnlich fordernd.

 

Jascha: Tatsächlich ist der Kuss, den wir mit Ton in der Mundhöhle machen, eine Hommage an eine Performance von Marina Abramovic, bei der die Performer gegenseitig so oft ein- und ausatmen, bis sie in Ohnmacht fallen. Wir wollten die Konfrontation zweier Körper zeigen, und nicht nur die Zärtlichkeit des Kusses abbilden. Im Kuss steckt auch Gewalt. Wir haben auch Anklänge aus dem deutschen Expressionismus im Tanz einfließen lassen. Wir nennen die Szene The German Witch, und dachten dabei an Mary Wigman und ihren Hexentanz, der sehr expressionistisch ist und sich zwischen Tanz und Performing Arts bewegt. Ein Moment ist inspiriert durch das Stück Café Müller von Pina Bausch: Jene Szene, in der wir Bewegungen schnell wiederholen und variieren. Wir wollten diese Referenzen wie Geschmacksideen in das Stück einweben, sodass die Schüler*innen diese Geschmacksnoten später vielleicht wiederentdecken können, wenn sie als Erwachsene darauf stoßen.

 

War es einfacher, diese Intimität zu entwickeln, da ihr ein Paar seid?

 

Jascha: Es wäre auf jeden Fall ein anderes Stück geworden vermutlich mit einer anderen Idee, wenn wir nicht liiert wären. Ich glaube, es hilft für die Idee des Stücks auf jeden Fall, dass wir zwei Männer sind, sodass ein bestimmter Raum aufgespannt wird. Ich hätte gleichwohl Lust, eine Version zu entwickeln für einen Mann und eine Frau oder zwei Frauen.

Raymond: Mein nächstes Stück wird sich der LGBTQ- Problematik in Malaysia widmen. In Malaysia wäre es kaum denkbar, dass sich zwei Männer auf der Bühne küssen. Ich habe den Wunsch, mit den Performances künftig für mehr Offenheit in Geschlechterfragen einzutreten und zu wirken.

 

Versteht ihr Euch als politische Künstler?

 

Raymond: Wir werden dazu! Wir werden gerade politisiert durch alles, was momentan passiert in der Welt. In der Covidpandemie konnten wir als Ehepaar nicht in meine Heimat Malaysia einreisen, da die Ehe zwischen Männern verboten ist und Jascha somit nicht als meine Familie galt.

 

Das ist nicht zeitgemäß. Doch was habt ihr neben der Forderung nach größerer Offenheit in Geschlechterfragen nun über das Küssen herausgefunden?

 

Jascha: Während der Arbeit am Stück las ich eine Analyse, welche Kulturen sich aufgrund romantischer Gefühle küssen. Demnach tun dies nur 60 Prozent. In der Studie wurde dies mit der Menge an Kleidung am Körper verknüpft. Die These: Umso weniger Kleidung Menschen am Körper tragen, umso weniger küssen sie sich, da bereits eine körperliche Intimität existiert. Das hat für mich viel Bezug zum Tanz. Viele tropische Naturvölker küssen sich gar nicht, weil sie im eternal summer kaum bekleidet sind. Die Inuit hingegen sind komplett bedeckt und haben nur ihr Gesicht frei – sie küssen sich. Der Kuss ist wohl eine Konzentration auf körperliche Nähe: Wo es gesellschaftliche Konventionen oder Kleidung gibt, ist er genau wie das Handhalten eine Möglichkeit der Annäherung. In distanzierten Gesellschaften erlaubt er, wieder Nähe herzustellen. Es ist eine archaische Verbindung zu unseren Ursprüngen und gestattet, uns mit unserer menschlichen Natur zu verbinden.

 

Gewissermaßen eine Verbindung zu unseren archaischen Wurzeln. Brauchen wir dann auch mehr Küsse in dieser weltpolitisch schwierigen Zeit? Ist der Kuss auch eine Friedensgeste unter Menschen und Völkern?

 

Jascha: Wir glauben, dass der Kuss diese symbolisieren kann, er aber genauso das Gegenteil bedeuten kann, nämlich gewalttätig und übergriffig sein kann. Er ist nicht nur die romantische Friedensgeste, sondern er kann zugleich Leiden schaffen. Es geht um Einflussnahme von Menschen aufeinander und die Wechselwirkung, wie wir aufeinander einwirken, als Freunde oder als Feinde? Ich fände es schön, wenn Schüler*innen durch 1000 Kisses über all diese wichtigen Fragen des Menschseins ins Gespräch kommen.