„Das Publikum ist hungrig nach solchen Stücken“
Tanz für Kinder im Krabbelalter, Performance Kunst für Babys, zeitgenössischer Bühnentanz für Jugendliche. Tanz erscheint als Kunstform für Jugend- und speziell für Kinderstücke besonders geeignet. Seit 30 Jahren gibt es Stücke für die ganz Kleinen. Über die Macht von Sinnlichkeit ohne Worte und die gesellschaftspolitische Kraft dahinter.
Rita Argauer | 10. September 2024
Im Rahmen der 10. Festivalausgabe von THINK BIG! fand Anfang Juni in München ein internationaler Fachtag zum Thema „Tanz von Anfang an“ statt. Zum Einstieg in die Thematik frühe Kindheit gab die Wissenschaftlerin Sabine Hattinger-Allende der Uni Duisburg einen spannenden Impulsvortrag zu einer kritischen Sicht auf Mutterschaft und Kindheit im Kontext des gesellschaftlichen Wandels.
Als weitere Referentinnen eingeladen waren die beiden Tanzproduzentinnen Claire Summerfield aus England und Saskia Wieringa aus Norwegen, um Einblicke in die künstlerische und produzierende Praxis aus dem Feld Tanz für ein sehr junges Publikum zu geben. In einem moderierten Gespräch mit der Tanzjournalistin Elisabeth Nehring entstand ein gemeinsamer Austausch mit Tanzschaffenden (Ceren Oran, Alfredo Zinola, Takeshi Matsumoto, Ute Schmitt, Dörte Wolter) und den Teilnehmer:innen. Die Besucher:innen des Fachtags kamen aus vielen unterschiedlichen Bereichen: Künstler:innen und Pädagog:innen, Dramaturg:innen, Verteter:innen aus Kulturpolitik und Kulturverwaltungen. Wissensaustausch und Vernetzung der Akteur:innen standen hier im Vordergrund.
Was zeigt der Blick auf die künstlerische Praxis hierzulande?
In München teilen sich das Bayerische Staatsballett und die Bayerische Staatsoper ein Haus. Und während man bei den Opernvorstellungen ein Publikum antrifft, das den Vorstellungen eines Opernbesuchs in den meisten Fällen äußerlich doch sehr gut entspricht, weicht das Publikum des Bayerischen Staatsballetts hier deutlich ab. Das Tanzpublikum ist selbst bei einer großen klassischen Institution wie dem Bayerischen Staatsballett ein anderes. Ein Jüngeres.
Blick zu einem Festival der freien Szene, auch in München: „Think Big!“. Zeitgenössischer Tanz für ein junges Publikum. Funktioniert ebenfalls prächtig. Teenager und auch jüngere Kinder finden einen erstaunlich direkten Zugang zu einer Kunstform, deren zeitgenössische Variante oft auch als sehr sperrig, sehr abstrakt, sehr nischenorientiert gilt.
„Tanz berührt uns auf der emotionalen Ebene“, sagt Simone Schulte-Aladag, Leiterin des Think-Big-Festivals und Gründungsmitglied des deutschlandweiten Netzwerkes explore dance – Tanz für junges Publikum, dazu. Menschen so früh wie möglich und altersbegleitend Zugänge zur Tanzkunst und zum Selber Tanzen zu eröffnen, das sei in der Gesellschaft nicht mehr selbstverständlich. Tanz an Schulen, an Kitas zu bringen, das ist seit 2006 die Idee des Vereins Fokus Tanz. Tanz als Bühnenkunst zu erleben, das ermöglichen ergänzend dazu ein Festival wie Think Big! oder das Netzwerk explore dance, das bundesweit Tanzstücke für junges Publikum lanciert.
Tanz als Kunstform, als Bühnenkunst ist dabei rein strukturell gesehen spannend. Tanz ist einerseits die abstrakteste Form der Darstellenden Künste. Tanz funktioniert ohne Wort, ohne konkrete Bedeutungseinschläge. Tanz ist aber dadurch gleichzeitig die am direktesten, am sinnlichsten wirkende Form der Darstellende Künste.
Nächster Blickwinkel: Kuckuck, ein Theaterfestival für sehr kleine Kinder in München. In der Ausgabe 2019 gab es ein Stück für Babys ab vier Monaten. Poetischer ausgedrückt, so wie in der Beschreiung des Stücks: „Tanz für alle, die noch nicht laufen können.“ Vier Monate, das ist aber sogar vor dem Krabbelalter. Das ist vor dem Sitzalter. Kinder versuchen da – rein körperlich gesehen – gerade mal sich selber umzudrehen. Kognitiv ist das Sein in diesem Alter noch nicht von der Mutter (oder der engsten Bezugsperson) getrennt. Wie kann in dem Alter eine Kunstform funktionieren, die so stark auf ein Gegenüber aufbaut wie das Theater, besser die Darstellende Kunst an sich? Ein Gegenüber, das als ein Spiegel, als Objekt der Identifikation oder der Assoziation auf einer Bühne steht? Das ist dem Baby erst einmal total egal. Es ist bezeichnend, dass dieses Stück, „Lumi“ der Titel, also eine Art Tanzstück war. Es arbeitete mit Sinneseindrücken, mit weichen Fellen auf dem Boden, mit Licht und mit Klang. Und mit Bewegung. Denn das sind alles Dinge, die selbst kleinste Kinder schon wahrnehmen. Und in denen sich ihre Wahrnehmung verfängt.
Dansens Hus Oslo ist Norwegens Theaterhaus für zeitgenössischen Tanz. Und auch hier versucht man jedes Jahr mindestens sechs Produktionen für Kinder herauszubringen, in den Altersgruppen 0 bis drei Jahre, drei bis sechs Jahre, für sechs+-Jährige und dann für 18+. 2023 waren es sogar zehn Produktion für ein junges Publikum, fast 40 Prozent des gesamten Programms richteten sich so an ein junges Publikum. Auch bei Think Big! gab es 2022 mit „we touch we play we dance“ ein Stück für unter Vierjährige, 2024 mit „Origami Club“ ein weiteres für diese sehr junge Zielgruppe.
„Das Stück ist eine tolle Gelegenheit für kleine Kinder mit allen Sinnen Tanz, Musik und Bewegung und eine energiegeladene positive Atmosphäre im Raum, die Gemeinschaft, zu spüren“, berichtet Simone Schule-Aladag über „we touch we play we dance“. Nach diesem Erlebnis habe sie viel über die Wirkung der Wahrnehmung von Tanz und Musikperformances bei ganz kleinen Kindern recherchiert. Auffällig ist dabei, wie auch sehr kleine Kinder sofort spüren, wann sie in einem nicht narrativen Bühnenstück mitmachen dürfen, wann sie Zuschauer sind.
Stücke für sehr kleine Kinder zeigen Performance Kunst auf eine sehr sinnliche Weise. „Ich bin daher fasziniert davon, dass diese Arbeiten Kinder und Erwachsene gleichermaßen begeistern und stimulieren. Diese Performance ist niedrigschwellig für alle Menschen zugänglich“, so Schulte-Aladag. 2024 initiierte sie im Rahmen des Think Big! – Festivals einen Fachaustausch zu diesem Thema, da speziell in anderen Ländern schon viel experimentiert und geforscht wurde. Auch im Netzwerk explore dance, das derzeit Stücke ab einem Alter von fünf Jahren zeigt, kann man sich vorstellen, sich zukünftig auch an noch jüngere Zuschauer:innen zu richten.
Auf Spurensuche
Tanz für sehr junge Kinder findet seinen Ursprung in den späten 1990ern. Der Choreograph Leif Hernes und die Pädagogin Ellen Os untersuchten mit dem Projekt „Klangfugl“ wie Kunst für Babys und Kleinkinder kreiert werden kann, aber auch wie sie von den Kindern erfahren wird. Dabei kam heraus, dass eben sogar die jüngsten Kinder dazu in der Lage waren, Kunst als Kunst wahrzunehmen, dass sie eine gewisse Aufmerksamkeitsspanne dafür haben und die Kunst auch genießen können, so lange die Aufführung in eine Kommunikation mit ihnen tritt und die Intention dahinter klar bleibt. „Klangfugl“ wurde dann zu dem internationalen Projekt „Glitterbird – Art for the very young“ und schaffte 17 Projekte für Babys in Italien, Frankreich, Ungarn, Dänemark, Finnland und Norwegen.
Klang und Bewegung als Ausdrucksmittel
Kommunikation ist hier ein Stichwort. Denn sehr kleine Kinder kommunizieren eben noch nicht über Sprache. Bewegung und Klang aber sind Ausdrucksmittel, die kleinen Kinder sehr geläufig sind. Und auch die Verbindung von Klang und Bewegung, etwa wenn junge Kinder ganz unbewusst anfangen, sich zu drehen, wenn sie Musik hören.
Die Tanzschaffende Claire Summerfield spricht dabei auch von der Sensibilisierung der Kunstschaffenden für ein junges diverses Publikum. Ein völlig neuer Fokus aber zeigt sich für sie in ihren Erfahrungen der künstlerischen Produktion mit und für ein neurodiverses Publikum. Die Stückentwicklung der britischen Company Second Hand Dance untersucht bereits im Prozess die Wirksamkeit von Performances, die Teilhabemöglichkeiten autistischer Kinder in den Blick nehmen.
„Die Sinnlichkeit der frühen Kindheit besteht vor allem in einem sehr leiblichen, aber auch geistigen und spirituellen berühren und berührt werden durch diejenigen, die für das Kind sorgen“, erklärt die Kindheitsforscherin Sabine Hattinger-Allende. Im Tanz sieht sie eine Möglichkeit, gerade für Kinder, die (noch) nicht sprechen können, dieser sinnlichen Erfahrung Ausdruck zu verleihen und damit kulturell zu vermitteln. Das reicht für Hattinger-Allende in eine (gesellschafts-)politische Dimension, wenn sie Kinder und diejenigen, die für sie sorgen, in dieser Gesellschaft von einer Invisibilisierung und von einer Abwertung durch Ressourcenarmut in der Sorgearbeit bedroht sieht. Kinder und diejenigen, die sich um sie kümmern, befänden sich in einer Art gesellschaftlichem Zwischenraum: „Ich bin der Meinung, dass Kunst und dabei vor allem performative Kunst, der Tanz, diesem „Dazwischen“ einen ästhetischen Ausdruck verleihen könnte und es so als kulturelle Form sichtbar und zugänglich machen könnte“, erklärt sie.
Und es funktioniert. Die Kinderstücke von explore dance, im norwegischen Dansens Hus sowie die Produktionen auf den Festivals Kuckuck und Think Big! werden bestens angenommen. „Das Publikum war hungrig nach solchen Stücken“, so einfach, so direkt drückt es Saskia Wieringa vom norwegischen Dansens Hus aus.