Platz nehmen – für den Tanz
explore dance war mit dem Pop Up Where the boys are von Yotam Peled beim Kulturpolitischen Bundeskongresses am 14. Juni in Berlin zu Gast. Mit dem Forumsbeitrag Tanz als Entwicklungsraum für (neue) Leitbilder fragten wir, wie Jugendliche und Kunstschaffende durch künstlerische Produktionsprozesse gemeinsam und voneinander lernen können. Teilnehmer*innen: Cosima Ruppert, Jette Zierke und Luna Rehnus, Mitglieder der JugendTanzCompany an der fabrik Potsdam; Dr. Kerstin Evert, Leitung choreographisches Zentrum K3 | Tanzplan Hamburg; Yotam Peled, Choreograph; Nicolas Knipping und Andrius Nekrasoff, Performer; Dr. Ulrike Wörner von Faßmann, Tanzwissenschaftlerin und Dramaturgin (Moderation)
Dr. Ulrike Wörner von Faßmann | 5. Juli 2024
Im Englischen gibt es den Ausdruck ‚to have a seat at the table‘. Ursprünglich in den 70er Jahren von der Abgeordneten im US-Repräsentantenhaus Shirley Chisholm eingefordert, bedeutet es im heutigen Sprachgebrauch, dass eine Person oder eine Gruppe in wichtige Diskussionen eingebunden wird und ihre Stimme Relevanz im Bezug auf Entscheidungsfindungen bekommt. Beim Bundeskongress der Kulturpolitischen Gesellschaft am 13. und 14. Juni 2024 hat explore dance einen solchen Platz eingenommen, um Standpunkte einzubringen, Themen mitzugestalten und den Stimmen junger Menschen Gehör zu verschaffen: In einem Forum, das aus der Aufführung von Where The Boys Are von Yotam Peled sowie einem Gespräch mit Künstler*innen und drei jugendlichen Projektbeteiligten bestand, wurden Tanz als Entwicklungsraum für (neue) Leitbilder thematisiert und die Potentiale des intergenerationalen Dialogs im Rahmen eines künstlerischen Prozesses herausgearbeitet. Neben den insgesamt 13 aus zahlreichen Bewerbungen ausgewählten Foren bestand das Programm des Kongresses aus prominent besetzten Vorträgen und Podien mit Akteur*innen aus den Bereichen Politik, Wissenschaft und Kunst. Die thematische Ausrichtung des Kongresses in diesem Jahr griff die aktuelle politische Lage auf und befragte die Rolle von Kultur, Kulturpolitik sowie kultureller und politischer Bildung im Umgang mit Polarisierung. Diese Aspekte wurden im explore dance-Forum auf den im Projekt zentralen Austausch zwischen Kindern bzw. Jugendlichen mit den künstlerischen Teams übertragen und der geschaffene Raum für die Perspektive junger Menschen als wichtiger Impulsgeber für die Aktualisierung von Rollenbildern, Werten und Machtverhältnissen vorgestellt.
Ernst genommen werden
Wie sieht also dieser intergenerationale Austausch aus und wie erleben die drei Jugendlichen selbst den geschaffenen Raum für ihre Perspektiven? Über die Begegnungen während der Proben im Kontext von explore dance sagt Jette Zierke, Mitglied der JugendTanzCompany der fabrik Potsdam: „Wenn die Künstler*innen kommen, ist es immer ein Geben und Nehmen. Wir geben etwas von uns, die Künstler*innen geben uns etwas zurück, das ist sehr schön.“ Damit dieser Dialog zwischen den Generationen und zwischen den Welten von Schulalltag und Kunst stattfinden kann, braucht es ein großes Maß an Offenheit und Neugier von beiden Seiten. Das vermittelte Gefühl, ernst genommen zu werden, wird im Gespräch immer wieder als zentrale Qualität in den Treffen mit den Künstler*innen genannt. Was eine Selbstverständlichkeit sein sollte, wird in den Wortmeldungen als positives Beispiel im Vergleich zu anderen Erfahrungen mit Erwachsenen formuliert. Das Gefühl, wahrgenommen und gehört zu werden ermutigt zur Neubefragung von Hierarchien und Deutungshoheiten, es lässt das Vertrauen auf die Relevanz der eigenen Stimme wachsen. Die Stimmen und Eindrücke der Jugendlichen werden in der Prozessbegleitung bei explore dance regelmäßig eingeholt. „Wenn wir das fertige Stück sehen“, schildert JugendTanzCompany-Tänzerin Cosima Ruppert, „schreiben wir darüber, wie uns das Stück berührt hat und was wir mitgenommen haben. Die Notizen geben wir dann den Künstler*innen.“
Wenn die Vorurteile verschwinden
Schon in der Formulierung ist zu erkennen, wie bedacht die drei Schüler*innen mit Feedback umgehen. Es werden keine allgemeinen Qualitätsurteile formuliert, sondern die eigene Erfahrung artikuliert. Für den Charakter der Initiative explore dance und die Entwicklung der jeweiligen Stücke sind die Eindrücke des Zielpublikums ein zentrales Element. Wie können junge Menschen ermutigt werden, sich so offen einzubringen? Diese Frage stellte sich das künstlerische Team um Yotam Peled im Vorlauf zu den Besuchen in der Schule. Sie versetzten sich jeweils in die Lage der Schüler*innen und überlegten, wie sie sie ermutigen können, den Prozess zu prägen. „Oftmals ist der Schulkontext ja eher so, dass die Erwachsenen etwas vermitteln oder zeigen“, so der Choreograph. „Diese Prägung wollten wir umdrehen – wir wollten nichts beibringen, sondern etwas lernen.“ Die Ermutigung erfolgte vor allem über eine Unvoreingenommenheit. So wurde jeweils nicht versucht, etwas Konkretes aus den Treffen mitzunehmen, sondern der Fokus auf den Dialog gelegt.
Um die Gespräche zu ermöglichen, wurden Bedingungen geschaffen, die den Austausch erleichtern sollen und verschiedene Hürden, sich in einer Gruppe zu äußern, mitgedacht. Für Cosima Ruppert, Jette Zierke und Luna Rehnus war dieses ehrliche Interesse an ihrer Meinung und der für sie geschaffene Austauschraum eine wichtige Form der Wertschätzung, so die Rückmeldungen. „Das Besondere insgesamt war“, resümiert Peled, „dass wir uns das Publikum in diesem Prozess nicht vorstellen mussten, sondern mit den Schüler*innen sein konnten und sie sich für uns wie Botschafter*innen des Stücks angefühlt haben.“ Zwei Gruppen, die sonst in Bühne und Zuschauerraum getrennt bleiben, treten in dieser Form des gemeinsamen Prozesses in Austausch miteinander. Sie sprechen aus verschiedenen Perspektiven über die Kunstform Tanz und die jeweils spezifisch verhandelten Themen. Es sind diese Formen der Begegnung, die Öffnungen schaffen und voreingestellte Konzepte des Gegenübers überwinden können. „Das ist ein schöner Moment, wenn die Vorurteile verschwinden“, erinnert sich der Tänzer Andrius Nekrasoff und wird von Nikolas Knipping bestätigt, der die Entstehung einer ganz besonderen Form des Miteinanders hervorhebt. Dieses Miteinander als Ergebnis eines gemeinsamen Arbeitsprozesses im künstlerischen Kontext rüttelt am Mythos der unerreichbaren Kunst und der Sorge um den Verlust der Magie durch Nahbarkeit. Damit stellt es Praktiken, Normen und Hierarchien in Bezug auf eingeschränkte Zugänglichkeit in Frage und entwirft jene Art von neuen Leitbildern, nach denen sich der Bundeskongress der Kulturpolitischen Gesellschaft auf die Suche gemacht hat.
Austausch auf Augenhöhe
So resümiert auch Yotam Peled: „Was sich für mich seit dem Prozess zu Where The Boys Are stark verändert hat, ist der Gedanke, nicht isoliert vor sich hin zu kreieren, sondern im Austausch mit Vertreter*innen des Publikums. Diese Begegnungen nehmen natürlich viel Zeit in Anspruch und trotzdem habe ich seit dieser Erfahrung immer derartige Kontaktpunkte gesucht, um zu sehen, was das, was wir machen, mit den Anwesenden macht und andersrum. Und ich habe immer die Frage im Hinterkopf, für wen diese Arbeit ist und welche Relevanz es für sie haben kann. Unabhängig davon, ob eine Arbeit für Jugendliche oder Erwachsene ist, hat mir diese Struktur bei explore dance gezeigt, dass dieser Austausch sehr wichtig ist. Vor allem in Zeiten der Krise können wir uns nicht von der Gesellschaft ausschließen, um Kunst zu machen.“
Repräsentation ist wichtig
Die Erfahrungen mit Jugendlichen haben bei explore dance bereits zahlreiche Prozesse angestoßen. Künstler*innen denken stärker über ihr Publikum nach und die Ausrichtung setzt vermehrt auf Impulse, zeitgenössische Tanzkunst an Orte zu bringen, an denen sie sonst nicht vorkommt. Die Perspektive der Jugendlichen wird verstärkt zu Rate gezogen: Bei der Auswahl der Choreograph*innen für die neuen explore dance-Produktionen im Jahr 2024 sichteten zum Beispiel drei Vertreter*innen der JugendTanzCompany Potsdam gemeinsam mit dem künstlerischen Projektleitungsteam die eingegangenen Konzepte. „Es war sehr interessant zu sehen, dass die Erwachsenen unsere Meinungen häufig anders eingeschätzt hatten“ erinnert sich Jette Zierke, „ich finde es sehr gut, dass die Gruppe, für die die Stücke sein soll, auch bei der Auswahl mitreden kann.“ Auch in diesem Verfahren konnten also Mutmaßungen durch repräsentative Stimmungsbilder abgelöst und statt über ‚die Jugendlichen‘ mit Vertreter*innen der Zielgruppe gesprochen werden. Den Wunsch, mehr mit ihnen als über sie zu sprechen, formulierten Cosima Ruppert, Jette Zierke und Luna Rehnus auch nach der Gesprächsrunde im Forum beim Bundeskongress der Kulturpolitischen Gesellschaft. Für derartige Veranstaltungen stünden sie gerne wieder zur Verfügung – darin waren sie sich einig.
Einen Platz am wichtigen Tisch der Kulturpolitik einzunehmen und vielstimmig zu bespielen ist ein großes Anliegen der Initiative explore dance, um ihr Ziel voranzutreiben. Es ist das Ziel, eine Arbeit zu leisten, die nicht nur kurz wirkt und dann verpufft, sondern die stabile Strukturen, gewachsene Beziehungen und künstlerische Entwicklung im Bereich zeitgenössischer Tanz für junges Publikum nachhaltig denkt – und die Bedingungen zur Ermöglichung dessen selbstbewusst mit vereinten Kräften einfordert.