MIT KONFETTI AUSSER KONTROLLE
CLÉMENT LAYES / Public in Private – ONONON
ONONON ist das zweite Pop-Up im Rahmen von explore dance – Netzwerk Tanz für junges Publikum, ein mobiles Stück, das am 4. April 2019 in der Freien Schule in Potsdam Premiere feierte. Helen Naujoks begleitete die zweite Aufführung, die am 05. April 2019 in der Mensa der Neuen Grundschule Potsdam stattfand: Der Choreograph Clément Layes und sein Team machen die Mensa zum Schauplatz der autonomen Dingwelt. Pflanzen tanzen in orangen Leitkegeln und Perücken kriechen wie von Geisterhand über den Boden. In einer oft zu schmucklosen und pragmatischen Welt, wo Konfetti und die Freude am Chaos kaum mehr Platz haben, wirkt ONONON wie ein kathartischer Kurztrip der Anarchie aus dem Korsett der Kontrolle.
Von Helen Naujoks | 02. Mai 2019
Es ist 9:30 Uhr, eine Stunde vor Aufführungsbeginn. Ich befinde mich in der Mensa der Neuen Grundschule Potsdam. Hier wird gleich die Vorstellung ONONON stattfinden. Gestern war Premiere in der Freien Schule in Potsdam. Der Raum ist noch sehr leer. Nur ein paar Erwachsene sitzen an den Tischen und trinken Kaffee, während das Team der Produktion das Bühnenbild zusammenbaut. Eine Kiste aus Naturholz bestehend aus wenigen Versatzstücken, ungefähr 2 mal 2 Meter groß, bilden das Fundament des mobilen Pop-Up Bühnenbildes. Die Kiste ist praktisch und multifunktional. Später wird sie den Performer*innen Cécile Bally und Nir Vidanals Bühne und Abtauchstation und den vielen Objekten als Stau- und Versteckraum dienen. Eine kleine Luke mit Klappe ist das Verbindungselement zwischen drinnen und draußen, zwischen off und on.
WIE VERWANDELT SICH EINE MENSA IN EIN THEATER?
Es wird keine externen Lichtstimmungen geben. Das Licht der Mensa soll als Spiellicht ausreichen. In der Mitte des Raumes wird die Kiste nun aufgebaut. In einem Halbkreis drum herum schieben und rücken zwei Helfer ungefähr 50 Stühle und ein paar Tische als Sitzgelegenheit für das junge Publikum zurecht. Die funktionale und cleane Neubau-Aura der Mensa lässt die Vorstellung eines Bühnenzaubers, der die Kinder in eine andere Welt hineinziehen soll, kaum zu. Andererseits gibt es hier nicht viel, was die Aufmerksamkeit der Kinder sonst noch auf sich lenken könnte. Ein paar Bilder hängen an der weißen Wand und es gibt Pflanzen, die für ein bisschen mehr Freundlichkeit im Raum sorgen sollen. Ansonsten nur Dinge, die wirklich benutzt werden: Tische und Stühle. Keine wirkliche Konkurrenz zu dem neuen, quadratischen „Ding“ in der Mitte. Damit macht sich die Holzkiste von ONONON zum spektakulärsten Objekt im Raum.
Trotzdem signalisiert die Mensa aus jeder Decken- und Bodenfaser: Das hier ist keine Spielwiese! Umso spannender, dass ausgerechnet an diesem Ort, in wenigen Minuten eine Aufführung mit vielen Objekten stattfinden wird. Werden die Performer*innen es schaffen, ob dieser nüchternen Atmosphäre, die Kinder in eine andere Welt hinein zu manövrieren?
WAS KANN DIE KISTE WIRKLICH?
Um 10:30 Uhr soll das Stück beginnen. Die Kinder trudeln nach und nach in die Mensa ein, beäugen teilweise neugierig, teilweise etwas überdreht die Kiste und setzen sich auf die Tische und Stühle im Halbkreis. Hier und da deuten die Lehrer*innen mit einem „Pssst pssst“ darauf hin, dass es gleich los geht. Eine junge Frau und ein junger Mann in schwarz gekleidet, stehen rechts hinter der Kiste auf Position. Das sind die Performer*innen Cecile und Nir. Sie sprechen die Kinder ganz direkt an: „Seid ihr so weit?“. Die Kinder antworten im Chor: „Ja!“. Die Verabredung ist getroffen, das Stück kann beginnen. Alles ist wie auf Knopfdruck mucksmäuschenstill. Die Blicke der Kinder verfolgen gebannt, wie die beiden Akteur*innen auf die Kiste steigen. Sie öffnen eine kleine Luke, durch die sie in der Kiste verschwinden. Was passiert wohl als nächstes? Die Luft steht still. Der Funke ist übergesprungen.
WIE FUNKTIONIERT DER TRICK MIT DEN OBJEKTEN?
Eine Musik geht an. Vermutlich kommt sie aus der Kiste. Die Luke geht auf. Eine Hand kommt raus. Musik aus. Die Hand verschwindet. Die Luke geht zu. Musik wieder an. Dieses musikalisch-choreographische Prinzip wird einige Male wiederholt. Immer wieder taucht etwas anderes aus der Kiste hervor: Ein Kopf, eine Perücke, eine Vase, eine Plastikaxt, ein großer gelber Tennisball. Die Kinder lachen und sind gefesselt vom rhythmischen Verschwinden und Auftauchen der Körperteile und Objekte. Der Rhythmus hat auch mich in einer Schleife mitgenommen und lässt mich nicht mehr los. Zu spannend ist die Frage: Was kommt als nächstes? Was wird damit passieren? Die Kiste funktioniert wie eine große Zauberbox, aus der immer wieder neue Gegenstände hervorgeholt werden, um dann wieder zu verschwinden oder auf der Bühne Kunststücke zu vollziehen.
IST DAS MAGIE ODER PHYSIK?
Denn obwohl es sich um Gegenstände handelt, die die Kinder aus ihrem Alltag kennen, verhalten sich diese Dinge nicht so, wie sie es gewöhnt sind. Pflanzen können tanzen, ein Stapel Papppakete kreist um sich selbst, Perücken kriechen wie von Geisterhand über den Boden.Wie ist das möglich? Welcher Trick steckt wohl dahinter? Schnell wird das Geheimnis gelüftet. Die Blume ist mit Magneten präpariert. Unter dem Paket befindet sich ein ferngesteuertes Auto und unter der Perücke robbt ein kleiner aufziehbarer Hund. Das Wechselspiel aus Illusion und Enthüllung, aus Magie und Entzauberung wird zum spannungsgeladenen Ereignis, bei dem die Kinder merklich damit beschäftigt sind, hinter die Tricks zu kommen. Sie versuchen zu erraten, was die Ursache der Bewegung hinter den Objekten sein könnte. Dass die Performer*innen im nächsten Schritt den Trick aufdecken, mindert in keiner Weise den Überraschungseffekt. Im Gegenteil. Alle sind verzückt. Das Zurschaustellen, “wie funktioniert der Trick“, scheint fast noch attraktiver zu sein als die Illusion selbst. Die Enthüllung wirkt wie ein Spiegel, in dem die Kinder ihre eigene Vorstellung von dem „wie es gemacht sein könnte“ mit der Realität „wie es tatsächlich funktioniert“ permanent abgleichen und reflektieren können.
WIE GEHEN WIR MIT ÜBERFORDERUNG UM?
Eine große, weiße Schüssel eiert sich gefährlich an den Rand der Bühne, Seifenblasen schweben aus der Luke, eine weiße Rose fährt auf der Spitze ihres Stängels umher und ein rot-weiß gestreifter Leitkegel wird zum Blumentopf. Ein Hocker zum Ausruhen kracht unter dem Gewicht der Frau zusammen. Die Holzkiste scheint einen unermesslichen Vorrat an Requisiten zu beherbergen. Deren Anhäufung zwingt die beiden Performer*innen immer schneller auf die Objekte zu reagieren. Das Zusammentreffen der menschlichen und dinglichen Welt geben spätestens jetzt Anstoß dazu, Gegenstände als aktives und herausforderndes Gegenüber wahrzunehmen.
WER BEWEGT WEN? WER HAT DIE KONTROLLE? OBJEKT ODER MENSCH?
Kindheitserinnerungen an Goethes DerZauberlehrling kommen in mir hoch. Die Erinnerungen an den frei drehenden Besen, der ein großes Chaos verbreitet und nur mit einem Zauberspruch zu bändigen ist. Einen Zauberspruch gibt es hier nicht. Aber viele gierige Kinderhände, die nur darauf gewartet haben, dass Gorillamasken, Spielzeughunde und Boxhandschuhe in ihre Fittiche übergehen. Als die Performer*innen anfangen, die sich anhäufenden Objekte ins Publikum zu schmeißen, ist es um die Kinder geschehen. Sie kreischen vor Freude und als dann noch das Konfetti durch die Luft wirbelt, gibt es kein Halten mehr. Die Grenzen zwischen Bühne und Zuschauerraum sind dahin. Niemand kann sich länger auf den Plätzen halten. Es herrscht Anarchie im allseitigen Einverständnis. Im gemeinschaftlichen Akt des Tauschens und Werfens entäußert sich ein poetischer sowie politischer Moment der Teilhabe.
WIE WAR DENN DER PROZESS MIT DEN KINDERN?
„Wir haben uns gefragt, was kann das Objekt? Wenn wir das Objekt betrachten, schauen wir nach den Qualitäten, wie sich das Objekt bewegt. Jedes Objekt hat ein bestimmtes Potential. Und mit Magneten und anderen Hilfsmitteln kann sich dieses Potential erfüllen.“
In der aktiven Beteiligung am Bühnengeschehen wird auch die aktive Teilhabe der Kinder am künstlerischen Prozess der Stückentwicklung sichtbar. In einem Zeitraum von vier Wochen gab es fünf Treffen mit Schüler*innen aus der ersten, zweiten und dritten Klasse der Freien Schule Potsdam. Dass die Kinder während der Aufführung auf die Objekte und deren Transformation so „anspringen“ ist das Resultat dieser vierwöchigen gemeinsamen künstlerischen Forschungstreffen. Auf die Frage, wie der Prozess mit den Kindern war, kommt die Sprache ganz schnell auf die Objekte: „Wir haben uns gefragt, was kann das Objekt? Wenn wir das Objekt betrachten, schauen wir nach den Qualitäten, wie sich das Objekt bewegt. Jedes Objekt hat ein bestimmtes Potential. Und mit Magneten und anderen Hilfsmitteln kann sich dieses Potential erfüllen.“
DIE VIELDEUTIGKEIT DER DINGE…IST DAS ZU KOMPLEX FÜR KINDER?
Für die Performerin Cecile war die Zeit mit den Kindern wichtig, um zu verstehen, was funktioniert und was nicht. Nicht davor Angst zu haben, dass jetzt die Kinder kommen und sie die Erwachsenen sind, die ihnen die Welt erklären. Und je nachdem, wie die Kinder auf die Objekte reagierten, zu merken: Okay, das ist eine gute Richtung. Oder zu verstehen, dass die Choreographie zu komplex ist.
In der Komplexität der Dinge sieht Clément aber auch ein großes Potential: „Wenn es für die Kinder zu abstrakt wurde, haben sie gefragt: Warum machst du das? Für uns war es aber auch wichtig, den Kindern zu vermitteln, dass nicht alles nur auf eine kleine Bedeutung reduziert werden kann und dass die Dinge manchmal komplexer sind. Ein Ding hat vielleicht nicht nur eine Bedeutung. Wir wollten ihnen einen Raum lassen zum Reflektieren und Assoziieren, was sie gesehen haben und was sie darüber denken“.
Den Kindern auf Augenhöhe zu begegnen und sie als Partner im künstlerischen Prozess zu beteiligen, stellte Nir vor eine der größten Herausforderungen: „Die Frage war auch, wie kommen wir den Kindern nah, ohne dabei kindisch zu werden?“ Ob den Künstler*innen das gelungen ist? Und was bedeutet kindisch sein mit Kindern? Sie nicht ernst zu nehmen? Sich als Erwachsener wie ein Kind zu verhalten, sich klein oder absichtlich lächerlich zu machen?
„Die Frage war auch, wie kommen wir den Kindern nah, ohne dabei kindisch zu werden?“
Obwohl die Kinder während der Vorstellung sehr viel zum Lachen haben, wirken die Performer*innen alles andere als kindisch. Auch wenn sie teilweise clowneske Züge annehmen, übertriebene Gesten des Staunens, Strauchelns und Stolperns ausführen, sind sie immer in einem direkten Kontakt mit ihrem Publikum, das sich gemeint fühlt und sich in den Gesten der Performer*innen wiedererkennen kann. Die Akteur*innen vergrößern mimisch ihre Gefühle des Überwältigtseins von der Welt und den Dingen um sie herum und nehmen die Kinder durch diese ausladende Geste der Stimmungs-Offenbarung immer wieder mit ins Boot.
Auf die Frage, ob sie bei der Stückentwicklung viel über Humor nachgedacht haben, sagt Clément: „Es gibt verschiedene Typen von Humor. Gestern haben wir Stand up Comedy geschaut für ein anderes Projekt, das wir machen. In ONONON spielen wir mit Erwartungen, aber mehr in einer Form von Absurdität oder einer Form, die abweichend ist von der Normalität. Das Objekt bewegt sich normalerweise nicht, aber sobald es anfängt, sich zu bewegen, passiert etwas, das die Kinder zum Lachen bringt. Es ist nicht so sehr der Witz, sondern eher die Verbindung zu etwas, das alltäglich ist und sich transformiert.“
WAS WAR DENN JETZT DER SINN HINTER DEM GANZEN STÜCK?
Dringlicher als die Humorfrage scheint bei den Kindern die große Sinnfrage zu sein. Im Gespräch mit den Künstler*innen, das unmittelbar nach dem Stück folgt, möchte ein Junge wissen: „Was war denn jetzt der Sinn hinter dem ganzen Stück?“ Ob denn immer alles Sinn machen müsse, wirft eine Lehrerin flux ein, um die Frage schnell zu umwandern. Die Frage nach dem Sinn im Tanz oder dem Sinn in der Kunst im Allgemeinen stößt in Kunstkreisen oft auf ein leichtes Unbehagen, da sich das manchmal nicht so einfach beantworten lässt. Dass diese Frage auch in der Schule auf Ablehnung stößt, wundert mich ein bisschen. Mir scheint die Nachfrage nach dem Sinn absolut berechtigt zu sein, verweist sie nicht nur auf ein Bedürfnis, verstehen zu wollen, was das Stück jetzt sagen möchte, sondern auch darauf, dass den Kindern ein Unterschied aufgefallen ist zwischen einem klassischen Theaterstück mit einer linearen Erzählung und einem assoziativen Stück, das eben einer anderen Logik folgt. Ein spannender Anlass, um mal darüber zu sprechen, was Sinn produziert und ob es jenseits einer linearen Geschichte noch andere Narrative zu entdecken gibt.
HAT EIN LUSTIGES STÜCK WENIGER TIEFE ALS EIN ERNSTES?
Ich vermute, dass die Angst, es könne in diesem Stück vielleicht keinen tieferen Sinn geben, damit zusammenhängt, dass so viel gelacht wurde und Lachen im Theater fälschlicherweise oft mit Oberflächlichkeit, Effekthascherei oder mangelnder Tiefe in Verbindung gebracht wird. Aber zum Glück sind auch die Künstler*innen an dieser Stelle begierig, mehr über den Kern ihres Stückes zu erfahren und schmeißen die Sinnfrage wieder zurück in die Runde.
„..und dann kamen immer mehr Gegenstände. Die haben sich ja auch von alleine bewegt, das war wie im Albtraum!“
Ein Kind brennt schon darauf, eine Antwort zu geben: „Das war ein Albtraum. Da waren ganz viele Gegenstände, das wurde den Performer*innen einfach zu viel, vielleicht zu viel im Leben, gestresst oder so und dann habt ihr am Ende zu uns gesagt, „tauschen tauschen“ und dann mussten wir tauschen und dann kamen immer mehr Gegenstände. Die haben sich ja auch von alleine bewegt, das war wie im Albtraum!“
KANN SPAß DER SINN SEIN?
Ein anderes Kind sagt, dass der Spaß der Sinn des Stückes sei. Ja, es hat allen Spaß gemacht. Da sind sich alle einig. Aber warum? Der Kern des Spaßes liegt für die Kinder vor allem in der letzten Szene. Wenn es darum geht, die Sachen zu tauschen und sie Teil einer Gemeinschaft werden. Teil einer Gruppe, die sich im Chaos vereint, um dieses mit Konfetti zu feiern und spielerisch zu umarmen, anstatt sich davon unterkriegen zu lassen. Das Stück ONONONgibt uns einen positiven Ausblick auf eine sich ständig verändernde und überfordernde Umwelt. Anstatt mit Kontrollwahn und Restriktionen auf unsere schnelllebige Zeit zu reagieren, feiern sich Clement Layes und sein Team zusammen mit den Kindern in einem kathartischen Kurztrip der Anarchie aus dem Korsett dieser Zwänge. In einem gemeinschaftlich spielerischen Akt mit dem Publikum begegnen sie dem Chaos mit noch mehr Chaos.