Kreatives und demokratisches Empowerment

PD Dr. Bettina Bläsing, Kognitions- und Bewegungswissenschaftlerin an der Universität Bielefeld, im Gespräch mit explore dance über die Frage, was Rezeption und Vermittlung von Tanz bewirken kann und warum gerade diese Kunstform für junges Publikum und in der kulturellen Bildung unverzichtbar ist.

explore dance und Dr. Bettina Bläsing | 5. Juni 2024

explore dance

Kann Tanzen glücklich machen?

Dr. Bettina Bläsing

Tanzen hat viele Aspekte, die glücklich machen: Wir sind körperlich aktiv, wir hören Musik, wir tun dies gemeinsam mit Gleichgesinnten. Wir können mittels unserer Bewegungen kreativ sein, miteinander interagieren und uns austauschen. Wir können ein Gemeinschaftsgefühl erleben ohne zu reden oder zuzuhören. Tanzen verbindet und ermöglicht uns, uns auszudrücken und zu verständigen, auch über sprachliche und kulturelle Grenzen hinweg.

explore dance

Geben Sie uns einen kurzen Einblick in Ihre Forschung zum Tanz?

Dr. Bettina Bläsing

Mich interessieren vor allem die kognitiven Aspekte, also die Frage, was Tanz mit Lernen und Denken zu tun hat. Anfangs habe ich mich vor allem dafür interessiert, wie komplexe Tanzbewegungen – zum Beispiel klassische Pirouetten – im Gedächtnis gespeichert sind, und wie dies mit der Fähigkeit, solche Bewegungen körperlich auszuführen, zusammenhängt. Dann sind weitere Aspekte dazu gekommen, wie die Rolle der Sprache beim Lernen von Tanzfolgen, aber auch die Bedeutung von tänzerischer Expertise beim Anschauen und Lernen von Tanzbewegungen. Zusammenfassend kann man sagen: Tanzen ist nicht nur ein körperliches, sondern auch ein sehr effektives kognitives Training.

Tänzer*innen sind nicht nur Expert*innen für körperliche Bewegung, sondern auch für das Lernen selbst und für die künstlerische Umsetzung des Gelernten, sie verfügen über ein hochkomplexes verkörpertes Bewegungsarchiv.* Tanz beruht auf zahlreichen Gedächtnisfunktionen, vom präzisen Lernen und Behalten komplizierter Choreographien über sehr lange Zeiträume hinweg bis zum spontanen Anwenden eines umfangreichen Bewegungsvokabulars. Tanzimprovisation ist verkörpertes Denken und körperlich-kreative Problemlösung in Echtzeit, eine beeindruckende Leistung des Arbeitsgedächtnisses – und ein gutes Training für den Umgang mit Unvorhergesehenem in vielen Lebenssituationen.

explore dance

Dr. Bettina Bläsing

Welche Empfindungen, welches Erleben kann die Rezeption von Tanz als Kunstform auslösen?

In den 1990er Jahren haben Neurowissenschaftler*innen herausgefunden, dass viele Gehirnzellen sowohl bei der Ausführung als auch bei der Beobachtung bestimmter Bewegungen aktiv sind – diese Zellen haben sie damals Spiegelneuronen genannt und ihnen zahlreiche wichtige Funktionen zugeschrieben. In dieser Forschung hat dann auch Tanz eine zunehmend wichtige Rolle gespielt, insbesondere hinsichtlich der Auswirkung von eigenen Bewegungserfahrungen und der ästhetischen Bewertung, also dem Gefallen oder Nicht-Gefallen. Kurz zusammengefasst hat diese Forschung gezeigt, dass wir ein weit verzweigtes, umfangreiches Netzwerk von Gehirnbereichen haben, die alle in unterschiedlicher Weise zur Wahrnehmung insbesondere menschlicher Bewegung beitragen, und die auch für soziale und emotionale Funktionen sehr wichtig sind. Wahrnehmung und Ausführung von Bewegungen sind also eng miteinander gekoppelt. Wenn wir uns Tanz anschauen, tanzt unser Gehirn sozusagen mit. Dieser Effekt kann so stark sein, dass wir die „getanzten“ Emotionen direkt mitfühlen, so wie wir die Bewegungen körperlich spüren können – diesen Effekt nennt man „kinästethische Empathie“.

explore dance

Tanz hat also für den eigenen Körper wie auch für die Menschen als soziale Wesen ein großes Entwicklungspotenzial. Ist es dann nicht besonders für Kinder und Jugendliche eine wichtige Erfahrung, Tanzaufführungen anzuschauen und Tanz zu erleben?

Dr. Bettina Bläsing

Tanz ermöglicht, körperlich zu kommunizieren, sich selbst zusammen mit anderen in Bewegung zu erleben. Gerade Kinder und Jugendliche suchen häufig neue Wege, sich mitzuteilen. Viele jüngere Kinder experimentieren gerne mit Bewegung. Für Jugendliche kann Tanz als nonverbale Ausdrucksform, bei der oft Emotionen im Vordergrund stehen, ein Gegengewicht zur verbalen, zumeist sachbezogenen Kommunikation bieten, die in der Schule im Vordergrund steht. Auch für die, die das Selber-Tanzen unangenehm finden, kann das reflektierte Anschauen von Tanz vieles vermitteln: Offenheit für die Vielfalt von Kulturen, Faszination für körperliche Fähigkeiten, Interesse an verschiedenen Tanzformen, das Bedürfnis nach eigener tänzerisch-kreativer Bewegung. Tanz kann sowohl in der Rezeption wie in der künstlerischen Praxis das Gefühl von Teilhabe und Selbstwirksamkeit vermitteln – und das ist besonders wichtig für eine demokratische Gesellschaft als Ganzes.

explore dance

Dr. Bettina Bläsing

Kann gerade für junge Menschen das Kennenlernen von unterschiedlichen Vorstellungen von Körper und Bewegung wertvoll sein?

Die Auseinandersetzung mit dem eigenen Körper – und mit der Realität menschlicher Körper im Allgemeinen – ist für Jugendliche ein zentrales Thema, das gerade durch Einflüsse von Medien häufig in fragwürdige Richtungen gelenkt wird. Tanz bietet eine besondere Möglichkeit, sich intensiv und konstruktiv mit der eigenen Körperwahrnehmung auseinanderzusetzen, den Fokus von dem „was man sieht“ auf das zu lenken „was man fühlt“ – also die propriozeptive und kinästhetische Wahrnehmung, den Tastsinn, den Gleichgewichtssinn. Auf der Basis dieses Körperbewusstseins kann ein authentisches Selbstbewusstsein erwachsen, im Sinne eines „sich seiner selbst bewusst sein“. Anders als in vielen Sportarten schult Tanztraining diese Wahrnehmung bewusst und eröffnet Möglichkeiten, den eigenen Körper als Mittel des persönlichen Ausdrucks jenseits von verbaler Sprache zu erleben. Gleichzeitig haben verschiedene Tanzstile eigene Vorstellungen und Normen hinsichtlich des Körperbildes, die sich z.B. im Ballett und im Hip-Hop essentiell unterscheiden. Diese Unterschiede zu diskutieren kann bereichernd sein in einer Welt, in der visuelle Idealvorstellungen leicht zu einengenden Normen erhoben werden.

explore dance

explore dance beteiligt Schüler*innen an Produktionsprozessen – u.a. durch Probenbesuche, dramaturgisches Feedback, in Form von Rechercheworkshops oder Gesprächen. Macht es einen Unterschied, Tanzstücke nicht für das, sondern mit dem Publikum zu entwickeln?

Dr. Bettina Bläsing

Die Erfahrung, aktiv an etwas beteiligt zu sein, einen persönlichen Fußabdruck in einem Werk hinterlassen zu können, kann sehr bereichernd sein – das Erlebnis, selbst etwas Sichtbares zu bewirken, kann Mut machen sich auch in anderen Bereichen aktiv einzubringen. Durch den Aspekt der kulturellen Partizipation, der bei explore dance mit im Vordergrund steht, erleben die Schüler*innen nicht nur, wie eine professionelle Tanzproduktion entsteht, sie dürfen auch selber Einfluss nehmen, werden an Entscheidungsprozessen beteiligt, in Dramaturgie, Choreographie und Produktion eingebunden und können so „ihr Stück“ mitgestalten. Dadurch erleben die Schüler*innen sich als Mitgestalter*innen eines künstlerischen Werkes – das ist auch kreatives und demokratisches Empowerment.