
„Ein heilsamer Prozess“
Der Choreograph Alexander Varekhine reflektiert über die Arbeit an seinem neuen Stück „Wo der Teppich Staub fängt“
Von Peter Sampel | 25. Oktober 2024
Eine beruhigende Geräuschkulisse erfüllt den Räum. Ist es das stetige Feuerknistern eines Kamins oder sind es doch Regentropfen, die von außen sanft gegen ein Fenster schlagen? So oder so hüllt es den Raum in eine warme Geborgenheit. Auf dem Boden liegen zwei massive Teppichrollen (Bühne: Christopher Dippert), aus denen sich die Tänzer*innen Alexander Varekhine und Laura Kisselmann herausschälen, später auf ihnen balancieren und spielen, sie hin- und herziehen oder als Unterschlupf benutzen. In zahlreichen Voice Overn (Sounddesign: Sebastian Wolf) erzählen die beiden von Erinnerungen an ihre Kindheit, an ihr Zuhause. Unsichtbare Bilder von Natur, von Essen, Jahreszeiten oder einer vergessenen Sprache aber auch von Schmerz, Ausgeliefertsein und toxischen Familienbeziehungen schweben über den Performer*innen und dekonstruieren das oftmals so idealistische Bild eines geborgenen Zuhauses.
Was ist eigentlich ein Zuhause?
„Wo der Teppich Staub fängt“ ist eine zutiefst intime und persönliche Arbeit geworden. Die Entscheidung, die ursprüngliche Idee, das multidimensionale Konzept von Zuhause breit aufzufassen, im Laufe des Prozesses aufzugeben, begründet Alexander aus zwei Perspektiven. Zum einen wird das Zuhause in aktuellen Diskursen häufig mit Heimat gleichgesetzt und erfährt so eine brisante politische Ebene, was angesichts globaler Krisen ein großes Konfliktpotenzial barg. Besonders offenbar wurde das Alexander und Tänzerin Laura beim Besuch der Partnerschule in Eidelstedt, wo in Gesprächen über Zuhause starke Gefühle gegenüber der Heimat der Eltern und eine verklärte Romantisierung derselben zum Ausdruck kamen.

Die Entscheidung, zu entpolitisieren und ins Private zu schwenken, stammte aber auch von der Erkenntnis, dass Alexander und Laura beide ein schwieriges Verhältnis zu ihrem Zuhause haben. Insofern folgte der Beschluss, Konkretes wie die eigenen Heimatorte herauszunehmen und auf philosophisch-psychologische Fragestellungen zu fokussieren wie: Was ist eigentlich ein Zuhause? Wie wirkt das Zuhause auf einen jungen Menschen ein? Und wie können sich Jugendliche aus den negativen oder gar traumatisierenden Erfahrungen emanzipieren und sich selbst ein neu definiertes Fundament für ein Zuhause legen?
Der Teppich als Repräsentation von Zuhause
Teppiche sind dabei nicht nur der Namensgeber, vielmehr ziehen sie sich als vielschichtige flauschige Protagonisten durch das gesamte Stück. Ein Teppich ist für Alexander die Repräsentation von Zuhause schlechthin. Schon immer war er mit ihnen konfrontiert, sei es an Wänden des Hauses seiner Uroma oder auf Schlafsofas. Als Kind spielt man auf Teppichen, sie fangen auf und halten von außen die Kälte ab, meint Alexander. Gleichzeitig setzen sie aber auch eine klare Grenze zwischen weich und hart und repräsentieren eine konservative Normativität, eine Hülle oder feste Vorstellung eines Zuhauses, die es vielleicht zu überkommen gilt.

Im Laufe der 30-minütigen Performance bebildern Alexander und Laura den mentalen Schmerz ihrer Kindheit durch physische Kämpfe, Stürzen oder Schutzhaltungen, um diese Bedrohungen schlussendlich gemeinsam zu überkommen und sich gegenseitig zu halten, Trost und Stärke zu spenden. Der Teppich wird hier zum Fundament eines neuen Zuhauses, das in positiven Erinnerungen, Wahlfamilien, Freundschaften oder auch in sich selbst liegen kann. Alexander sagt dazu: „Auf der Ebene der Dinge, die mir ein Zuhause gegeben haben, kann ich auch mein Zuhause aufbauen.“
Eine Form von Empowerment
Es ist sicherlich leicht nachzuvollziehen, dass die Proben zu „Wo der Teppich Staub fängt“ und auch die Vorstellungen ein sehr emotionaler Prozess für Alexander und Laura waren. So fiel das Schreiben der Texte für die Voice Overs in einigen Punkten sehr schwer, einige Textstellen wurden mit kleinen Unwahrheiten gespickt, vermischt oder getauscht gesprochen, um die spezifischen „Rollen“ unlesbarer zu machen. Rückblickend steht für Alexander aber nicht der Schmerz im Vordergrund, der während der Proben ausgesprochen werden konnte, sondern vor allem eine Form von Empowerment, die Erkenntnis, nicht ausgeliefert zu sein, sondern dass es Auswege gibt. So möchte Alexander den Jugendlichen vor allem eins mitgeben: „Ihr müsst nicht immer den Vorgaben eures Zuhauses folgen. Ihr könnt auch dagegen gehen. Wenn ihr euch nicht gut fühlt, müsst ihr das nicht aushalten. Es gibt Orte, an denen ihr über eure Erfahrungen sprechen könnt.“
Fotos: Öncü Gültekin
Seit der Premiere im September am K3 wurde „Wo der Teppich Staub fängt“ auch schon in Potsdam und Cottbus gezeigt. Anfangs, so Alexander, beobachte er häufig Schutzreaktionen bei den Jugendlichen, insbesondere bei jungen Männern, die sich aber gegen Ende immer beruhigen. Die Nachgespräche ließen teilweise persönliche Einblicke zu, aber die Klassengemeinschaft ist auch nicht der richtige Ort, um sich verletzlich zu öffnen. Viel wichtiger sei, was später in den Köpfen passiert, sich Zeit zu nehmen, zu verdauen und bestärkt zu fühlen – und das nicht nur für die Jugendlichen, sondern v.a. auch die anwesenden erwachsenen Zuschauer*innen, die über ihre eigene Kindheit und ggf. ihre Rolle als Eltern reflektieren können. Die kraftgebende Wirkung von „Wo der Teppich Staub fängt“ beschränkt sich laut Alexander nämlich nicht nur auf das jugendliche Publikum, sondern auf alle, sogar ihn als Performer: „In vielerlei Hinsicht war es ein heilsamer Prozess. Ich konnte viel verstehen und verzeihen. Und herausarbeiten: Vielleicht geht’s auch anders.“