Siftte und Notizzettel liegen auf einem dunklen Boden

„It’s a two-way street!“

Welche strukturellen Zugänge, Mittel und Haltungen brauchen (Kultur-) Institutionen für die gelingende Umsetzung von Kinder- und Jugendbeteiligung?

In der Arbeit von explore dance nehmen Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene unterschiedliche Positionen ein: Sie sind Recherchegegenstand, deren Lebenswelt erforscht werden will, sie sind Inspirationsquelle für eine zeitgemäße Darstellung junger Lebenswelten und zugleich auch Kolleg*innen beim gemeinsamen Konzipieren und Proben sowie Besucher*innen, die ein Tanzstück erleben und auf sich wirken lassen.

In den städteübergreifenden Austauschtreffen der explore dance-Künstler*innen wird deutlich: Nicht nur bei den jungen Menschen ploppen Begeisterung und Aha-Effekte wie Popcorn unkontrolliert in alle Richtungen. Produzieren für junges Publikum eröffnet auch den erwachsenen Profis neue Perspektiven – in Bezug auf künstlerische Diskurse über Ästhetik und Repräsentation, sowie auf die Regulierung von Körpern und ihren Bewegungen.

Von Carolin Gerlach | 11. Oktober 2025

Seitenwechsel wagen

Im Alltag ist die Rollenzuteilung oft schon festgelegt: Ob im Klassenzimmer oder im Theaterraum, Schüler*innen sitzen und reagieren zumeist, während Lehrkräfte oder Tänzer*innen oftmals stehen und agieren. Wie kann diese Blickrichtung umgekehrt werden, sodass aus jungem Publikum auch junge Mitgestalter*innen werden können? Welche Form der Zusammenarbeit ermöglicht jungen Menschen die Rochade von der bloßen Anwesenheit bzw. Beteiligung an einer Aktivität, #Teilnahme, hin zur gleichberechtigten Mitwirkung, #Teilhabe?

Denken wir groß und gehen noch einen Schritt weiter, indem wir fragen: Wie könnte #strukturelle #Beteiligung aussehen, in der Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene die Hände an den Hebeln haben, Rahmen gestalten, Ressourcen verwalten, Entscheidungen treffen und in dieser Funktion mit ihrem Anliegen in der Öffentlichkeit wirksam werden?

Im Rahmen einer dreiteiligen Online-Veranstaltungsreihe erforschten und diskutierten wir im Frühjahr 2025, welche Rahmenbedingungen es für junge Kulturschaffende braucht, um größtmögliche Handlungsfreiheit, Selbstwirksamkeit und öffentliche Anerkennung zu erfahren. Wir haben Vorreiter*innen zwischen elf und 45 Jahren befragt, die uns Einblick in sechs Projekte gegeben haben.

Rahmenbedingungen schaffen

Die erste Session begann mit der Reflexion aus Erwachsenenperspektive: Welche Räume stehen zur Verfügung und wie können sie für die Beteiligung von Kindern und Jugendlichen attraktiv gemacht werden? Offene Kinder- und Jugendangebote gibt es bundesweit durch ganz unterschiedliche Anbieter: von der Kirche über das Bürgerradio, Jugendfeuerwehr oder Jugendrotkreuz, bis hin zu Theater- und Sportclubs. Am Beispiel des Kinder- und Jugendbeteiligungskonzeptes der Stadtverwaltung im sächsischen Riesa sprachen wir mit Fabian Brenner von der Servicestelle Kinder- und Jugendbeteiligung sowie mit dem Künstler Dominic Glöß über strukturelle Voraussetzungen.

Laut Fabian sind das Angebot einer Institution und eine im Vorhinein angelegte Strategie zur Prozessbegleitung notwendig. „Zur Not auch mal den Kopf hinhalten, den man nicht mehr in der Hand hat.“, beschreibt er diesen Balanceakt der Abgabe von Kontrolle und Macht – von den Erwachsenen in die Hände der Jüngeren. Erst, wenn die jugendlichen Teilnehmenden die verlässliche Erfahrung von echter Beteiligung machen, in der die Ergebnisse nicht schon im Vorfeld feststehen, kann Vertrauen geschaffen und Beteiligung auf Augenhöhe gelingen. Eine gemeinsame Fehlerkultur aufbauen und ergebnisoffene Erfahrungen sammeln können, das seien die Grundpfeiler. Hierbei müsse der Gestaltungsspielraum vorab transparent und deutlich kommuniziert werden.

Zitat: Es ist ein Balanceakt.

Dominic Glöß lebt heute in Chemnitz und arbeitet als Illustrator. Aufgewachsen in Riesa, hat er dort vor zwanzig Jahren als Teenager ein Kunstfestival mit auf die Beine gestellt und die Kraft von echter Jugendbeteiligung miterlebt. „Es geht darum, von der Idee bis zur tatsächlichen Umsetzung gemeinsam am Ball zu bleiben, scheinbare Hürden zu bewältigen, die verschiedenen Entwicklungsstufen der Zusammenarbeit zu durchlaufen.“ Sich als Team zu verstehen und mit einer Idee nach außen hin zu präsentieren, das hat Dominic bis heute geprägt: Gemeinsam mit Freund*innen gründete er als junger Erwachsener das Kotburschi-Kollektiv, welches z. B. das interdisziplinäre Kunstfestival MALJAM JUMBLE in Dresden veranstaltet.

Selbstverwaltung erproben

Kinder- und Jugendbeteiligung stärkt also zum einen das Erleben von Selbstwirksamkeit und zum anderen das politische Engagement. Doch wie gestalten sich Angebot und Zugang zu solchen Beteiligungsmöglichkeiten? Welche Anreize werden geschaffen, um die Aufmerksamkeit und die Bereitschaft junger Menschen zu wecken? Und was macht Beteiligungsprozesse für Kinder und Jugendliche eigentlich attraktiv?

Welche Antworten finden Projektträger und ihre erwachsenen Mitarbeitenden auf diese Fragen – und wie unterscheiden sie sich von den Antworten junger Menschen? Diesem Thema widmen wir uns im Rahmen der zweiten Diskurs-Session und hören direkt von jungen Menschen zwischen 11 und 24 Jahren, in welchen Projekten sie sich engagieren, was sie dranbleiben lässt und wie sie das Zusammenleben bei sich vor Ort aktiv mitgestalten.

Vorbilder aus Berlin – Kinder begleiten ein Festival

Die Perspektiven der jungen Beteiligten variieren stark: Kinder haben andere Bedürfnisse und Interessen als Jugendliche, diese unterscheiden sich wiederum von der Sicht auf die Welt der jungen Erwachsenen. Im Gespräch mit Kindern aus der Blick’s Mal-Jugendgruppe des Augenblick Mal!-Festivals wurde deutlich, wie wichtig ihnen der Kontakt zu ihren erwachsenen Ansprechpersonen vom Festivalteam ist.

Zitat: Kinder und Erwachsene lachen an unterschiedlichen Stellen.

Zum Einsatz kommen die Kinder bei der Sichtung und Auswahl der Stücke und im Kontakt mit dem Publikum als Begleiter*innen durch die Programmpunkte während der Festivalwoche. Der 12-jährige Theo verrät: „Verschiedene Altersgruppen lachen an unterschiedlichen Stellen. Da merken wir, dass die Erwachsenen einen anderen Geschmack haben. Darum ist es wichtig, uns und unsere Reaktionen bei der Stückauswahl einzubeziehen.“

Zwei Kulturpädagog*innen übernehmen die Kommunikation mit den Erziehungsberechtigten und die Aufsichtspflicht der Kinder während der Treffen. Sie organisieren Räume für Gruppentreffs und Tickets für Exkursionen, moderieren den Ablauf und dokumentieren sowie kommunizieren die Entscheidungen der Kinder zur Rückkopplung ans große Festivalteam. Darauf können die Kids sich stets verlassen – und fühlen sich daher gut aufgehoben. Die Sprache der Wertschätzung wird hier übrigens an einer Leistung besonders deutlich: „Wenn die Begleiter*innen auch wirklich die Snacks mitbringen, die wir uns ausgesucht haben!“

Vorbilder aus Bremen – Junge Erwachsene kuratieren eine Ausstellung

„New Perceptions“, so nennt sich das Jugendkuratorium der Kunsthalle Bremen. Der Deal ist von Beginn an klar: Die Kulturinstitution bezweckt „die Öffnung des Hauses für neues und jüngeres Publikum sowie die Förderung von Diversität und Teilhabe“. Hierfür bietet sie ihren jungen Kuratoriumsmitgliedern die Chance zur Gestaltung einer eigenen Ausstellung und die Möglichkeit, als bezahlte Guides eigenständig Führungen durch die Kunsthalle zu leiten.

Eine Projektkoordinatorin ist das „Scharnier“ zwischen Jugendkuratorium und Kunsthallen-Leitung. Sie sorgt für Kommunikation – und achtet darauf, dass Entscheidungen in beide Richtungen wahrgenommen und umgesetzt werden. Ein weiterer Grundstein für die gelingende Anbindung der Jugendgruppe, ist der Zugang zu eigenen Räumlichkeiten. Indem die Institution einen Raum zur Verfügung stellt und dafür sogar den Schlüssel aus der Hand gibt, ermöglicht sie zugleich die Erfahrung von Zugehörigkeit wie auch von Freiheit.

Vom Kuratieren eigener Ausstellungen, der Erstellung von Audioguides, Entscheidungen über das Layout, dem Betreiben eines eigenen Insta-Kanals sowie einer (finanzierten und organisierten) Bildungsreise nach Paris werden die Entscheidungen der jungen Leute ernst genommen – und verwirklicht. Darüber hinaus bleibt lediglich der Wunsch nach Vernetzung und Austausch mit anderen Jugendgremien und Beteiligungsprojekten noch offen. Die Jugendlichen und jungen Erwachsenen des Kuratoriums stehen als offizielle Repräsentant*innen für die Institution in der Öffentlichkeit. Wenn sie „wir“ sagen, sind die erwachsenen Mitarbeitenden der Kunsthalle mitgemeint.

Zitat: Mit "wir" sind die jungen Menschen und die Erwachsenen gemeint.

Vorbilder aus Wolfenbüttel – Jugendliche gestalten Kommunalpolitik

Freya und Emil vom Jugendparlament Wolfenbüttel betreiben aktiv Kommunalpolitik. Sie sind durch Schüler*innen für eine Periode von zwei Jahren in ihr Amt gewählt worden und setzen sich für die Belange und Interessen der Jugendlichen ihrer Stadt ein z.B., wenn es um Schule, Freizeitgestaltung oder Umwelt geht – von neuen Sportplätzen, über sichere Schulwege bis hin zu besseren Busverbindungen. Das Jugendparlament hört die Anliegen der Kinder und Jugendlichen und bringt sie in die Stadtpolitik ein.

Zitat: Ich trage gern Verantwortung.

Seit 16 Jahren ist es in der Stadtpolitik verankert und im gesellschaftlichen Zusammenleben sichtbar, beispielsweise in Form eines autofreien Sonntags. In regelmäßigen Pressemitteilungen teilt das Jugendgremium der Öffentlichkeit seine Perspektive auf das politische Stadtgeschehen mit und verschafft den Interessen der unter 18-Jährigen wirksames Gehör. „Ich trage gern Verantwortung und gebe auch gern zurück“, sagt die 18-jährige Freya, die sich u.a. für „Feminismus, Fahrradwege und finanzielle Bildung“ stark macht. Wenngleich die Jugendpolitiker*innen ehrenamtlich tätig sind, diskutieren sie aktuell eine Vorlage, die es ermöglichen soll, bei Bedarf auf Antrag Sitzungsgelder zu erhalten.

Selbstermächtigung voranbringen

Zwar richten sich die Aufrufe zum Kandidieren und zum Wählen des Jugendparlaments an eine breite Zielgruppe, jedoch monieren Freya und Emil eine fehlende Diversität innerhalb der Beteiligten. Die Zugangs-Chancen im Sinne der Gleichberechtigung und Teilhabe aller Schüler*innen im Stadtgebiet sind also ein wichtiges Thema für Beteiligungsprojekte.

Wen erreicht ein Aufruf? Wer fühlt sich tatsächlich davon angesprochen – und wer eben nicht? Wie wirkt sich die Zusammensetzung einer Gruppe auf ihre Entscheidungen aus? Und wie wäre es, wenn junge Menschen nicht erst von einer Institution aufgerufen werden müssten, um sich zusammenzufinden und in den gesellschaftlichen respektive politischen Diskurs einzubringen? In der dritten Session befassen wir uns mit Methoden der Selbstermächtigung.

Cesy Leonard, Gründerin des Kollektivs „Radikale Töchter“, gibt Anstöße, wie wir gesellschaftliche Anliegen formulieren, die eigene Stimme entdecken und ins Handeln kommen können. Seit 2019 motivieren sie und ihre Kolleginnen im Rahmen von Schulworkshops Jugendliche und junge Erwachsene mit spielerischen Methoden zu mehr politischer Teilhabe. Das Kollektiv sieht es als seine Aufgabe, über die Möglichkeiten politischer Mitbestimmung aufzuklären und ermutigt zugleich dazu, Gefühle unkonventionell zum Ausdruck und Utopien in die Umsetzung zu bringen.

Regeln umkrempeln

Aktionskunst greift in das Soziale und in das Politische ein und will die Gesellschaft mit kreativen Mitteln umgestalten. Jeder Platz, Park oder Straßenabschnitt hat seine Regeln, die man mit Aktionen legal für kurze Zeit unterbrechen oder irritieren kann, um Aufmerksamkeit zu erlangen. Dabei vermischt sich die Trennung zwischen Akteur*innen und Zuschauenden. Am Anfang steht die Unzufriedenheit: Aktiv wird, wer etwas verändern will und einen Weg findet, einem ausgewählten Thema Gehör zu verschaffen. Kern ihrer Aktionskunst sei die Arbeit mit Wut und Empörung, da viele junge Menschen Ungerechtigkeitsgefühle kennen und damit etwas anfangen können: „Wann warst du das letzte Mal wütend und wieso? Hat dir Wut schon mal geholfen, etwas zu erreichen? Was macht dich immer wieder wütend?“ Wut stehe häufig am Anfang von politischer Veränderung. „Es ist ein kraftvolles Gefühl, wenn wir es schaffen, Wut in Mut umzuwandeln!“ Die Jugendlichen werden dazu angeregt, ihre Wut für etwas Produktives nutzen.

Räume, in denen junge Menschen sich austauschen und politisch aktiv sein können, finden sich nicht nur analog. Als Begegnungs- und Informationsraum seien Tiktok, Youtube und Instagram gleichauf mit analogen Jugendtreffs wertzuschätzen. Daher gibt Cesy Leonard den Tipp, als Organisation immer auch dafür zu sorgen, dass Fördergelder für den Ausbau von zielgruppenentsprechenden Social Media-Kanälen wie Tiktok und Instagram beantragt werden. Am Ende jedes Workshops fragen die Radikalen Töchter übrigens die Jugendlichen nach Songs, die Mut machen und übernehmen diese Vorschläge in ihre „MUT-Boost“ Spotify-Playlist.

Zitat: Am Anfang steht die Wut.

How to #Herrschaft?!

Gelingende Kinder- und Jugendbeteiligung hat viele Gemeinsamkeiten mit Tanz- bzw. Theaterproduktionen: Es braucht Menschen, die sich gleichzeitig an einem Ort versammeln und ein gemeinsames Ziel in den Blick nehmen. Die Beispielprojekte verbindet, dass sie an eine Trägerinstitution angebunden sind, u.a. in Form von finanziellen Mitteln und der professionellen Begleitung durch mindestens eine bezahlte Fachkraft, die zwischen der Institution und den Jugendlichen vermittelt.

Zitat: Wir lernen von jungen Menschen.

Für die Wirksamkeit von aufrichtiger und strukturell verankerter Beteiligung sind regelmäßige Treffen, eigene Aufgabenbereiche und Entscheidungskompetenz für junge Menschen sowie die Sichtbarkeit durch Öffentlichkeitsarbeit und Kommunikationsmöglichkeiten für die Gruppe von Bedeutung. Die Radikalen Töchter machen außerdem deutlich, wie ausschlaggebend die Haltung ist, mit der die Erwachsenen bzw. die Institutionen auf Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene eingehen. „It’s a two-way street“, sagt Cesy Leonard, „Wir lernen immer auch von den jungen Menschen.“

Allen Impulsen liegt die Überzeugung zu Grunde, dass Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene selbst am besten wissen, was sie interessiert, womit sie sich beschäftigen wollen und welche Unterstützung sie dabei brauchen. Es liegt somit in unseren erwachsenen Händen, die Räume und Ressourcen verwalten und Regularien überwachen, aufmerksam hinzuhören und solche Angebote auch zu schaffen.